Aa-choo

„Aa-choo“, meint die Rezeptionistin des Magnus Hotel in Kaunas. Ich bin geneigt, ihr Gesundheit zu wünschen, aber eigentlich sah es gar nicht nach nießen aus. Wie üblich in einem neuen Land habe ich nach dem geschäftlichen Teil danach gefragt, wie man hier Danke sagt, und sie meinte „aa-choo“. Ich bekomme es nicht aus meinem Kopf, das lautmalerische Comic-Nießen; die verarscht mich doch. In meinem Zimmer frage ich Google, „Danke“ heißt auf litauisch „Dėkoju“. Die Szene aus Monty Phyton’s Flying Circus kommt mir in den Sinn, mit dem falschen Sprachführer („könnten Sie mir bitte heftig den Popo streicheln?“ – „Ah ja, der Bahnhof ist da hinten, zweite Straße links“). Am nächsten Morgen probiere ich es beim Taxifahrer, auch er nießt als Antwort. Etwas später klärt es sich auf. Ein mehrsprachiges Schild in einer Kirche bedankt sich für die Spende mit „Ačiū“, obwohl ich gar nichts eingeworfen habe. So verarsche ich Litauen zurück.

Ich bin in Kaunas. Die erste Version der Törnplanung hätte uns ja die polnische Küste entlanggeführt, und wir hätten wahrscheinlich in Klaipėda Halt gemacht. Durch unsere Umplanung über Schweden haben wir aber Litauen ausgelassen, und das sehe ich gar nicht ein – da war ich noch nie! Wahrscheinlich ist auch so die ganze Idee mit dem Rückweg über Land gekommen; das etwas zu kurz gekommene Baltikum und Polen eben alternativ zu erleben. Die Verkehrsverbindungen hier oben sind etwas gewöhnungsbedürftig – es geht nicht jede Stunde ein Bus, und schon gar kein Zug. Tatsächlich wäre die Zugverbindung von Riga nach Kaunas oder Vilnius richtig abenteuerlich gewesen, und so nehme ich am Ende einen Flixbus, der ein paar Umwege fährt, und erst um ein Uhr morgens in Kaunas ankommt. Die späte Abfahrt ist dem geschuldet, dass ich versprochen hatte, von unterwegs auch etwas zu arbeiten, und so am Montagnachmittag ein paar Calls anstanden.

Kaunas, so lese ich irgendwo, war in 2022 Kulturhauptstadt, und ich lege hier einen kurzen Stop ein. Am frühen Nachmittag geht es weiter per Zug nach Warschau. So stehe ich für meine Verhältnisse früh auf, lasse mich mit dem Taxi in die Altstadt fahren, und gehe dann langsam zurück. Eine nette Stadt, aber hin- und weg ist anders. Kaunas liegt wie Klaipeda an der Memel, und den Fluss kennen wir aus dem verbotenen Teil unserer Nationalhymne. Bis hierhin ging also mal das Deutsche Reich (also bis zum anderen Flussufer, die Altstadt ist auf der Nicht-Reichs-Seite). An die Mischung von Vorkriegs-Alt, Sowjet-Ungepflegt und aufstrebend EU-Modern habe ich mich mittlerweile gewohnt, und die Sprache scheint ähnlich; die Situation bei Danke (das lettische Paldies vs. Ačiū) muss ich wohl als die regelbestätigende Ausnahme annehmen. Aber die Litauer scheinen sich weniger Gedanken zu machen. Hier steht fast alles nur auf Litauisch, man sieht kaum kyrillisch, aber auch wenig Englisch. Witzige Ausnahme: Das Taxameter und die Supermarktkasse, hier erkenne ich Russisch.

Zugfahrt nach Warszawa

Um 13:05 bin ich am Bahnhof, bereit für das Eisenbahnabenteuer. Ich werde enttäuscht: die Litauer setzen einen modernen Dieseltriebwagen ein, der bis kurz vor die polnische Grenze fährt, in Mockava müssen wir umsteigen; ein polnischer Intercity holt uns ab. In Litauen, wie im gesamten Baltikum wird noch auf russicher Breitspur mit 1520mm gefahren, auf der anderen Bahnsteigsseite in Mockava ist dann europäische Normalspur mit 1465mm. Es gibt zwar Pläne – ein hochpriorisiertes Projekt der EU – mit Rail Baltica eine Hochgeschwindigkeitsstrecke in Normalspur Wahrschau bis Tallin bzw. mit Tunnel nach Helsinki zu machen, aber außer Bauarbeiten am Rigaer Bahnhof sehe ich bislang wenig davon.

Riga und der sowjetische Hauch

Guck mal, eine Tankstelle! Allmählich gibt man sich auch mit kleineren Sehenswürdigkeiten zufrieden, wenn man aus dem Bus schaut. Wir fahren mit dem Bus nach Riga, insgesamt fünf Stunden inklusive längeren Umsteigepause in Ventspils. Ein Eindruck der Landschaft gefällig? Feld, Wald, Wiese, Wald, Wiese, Feld, Telegrafenmasten, Wiese, Feld, verfallenes Gebäude, Wald, Wiese, Telefonmast mit Storchennest und Storch, Wald, Wald. Manchmal ändert sich die Reihenfolge, und manchmal fährt der Bus von der Landstraße ab, um in einem Dorf mit fünf Häusern Fahrgäste auszutauschen. Doro und Frank haben schon am Vorabend in Riga ein Hotel reserviert, ich wollte unentschlossen, äh spontan, bleiben und denke, dass ich schon was finden werde – booking.com zeigt noch alles mögliche frei an. So trete ich nach Frank an die Rezeption des Wellton Hotels und frage nach einem Zimmer. Es tut ihr leid, meint sie, alles ausgebucht. Na gut, dann halt doch mit Internet. Auf dem Schlaukasterl bietet das ausgebuchte Wellton Hotel weiterhin Zimmer an. Als ich die Rezeptionistin darauf hinweise zuckt sie mit den Schultern, versteht sie auch nicht. Ich soll’s halt im Internet buchen. Heu-Wäg-El-Chen. Ich buche, hinterlege eine Kreditkarte, dass ich auch wirklich kommen werden, und bekomme die Bestätigungsmail. Die Rezeptionistin nicht. Hmmmm, würde ich bitte noch kurz warten. Insgesamt dauert es fast eine halbe Stunde, bis die Azubine und die Chefin mir einen Schlüssel geben können. Am Ende gibt mir die Azubine falsch Wechselgeld raus, und es braucht fünf Minuten sie zu überzeugen, dass sie sich selbst um fünf Euro bescheißt. Beide reden russisch.

Den meisten von Euch ist mein gespaltenes Verhältnis zu dem Land bekannt, wem nicht, der kann ja ein paar der auf 2004 datierten Beiträge in diesem Blog lesen. Um dem ‚gespalten‘ gerecht zu werden, hier ein paar positive und relativierende Worte: Ich habe in meiner Zeit in Russland viele sehr nette und herzlich Russen kennengelernt. Ich hoffe sehr, dass das nicht mittlerweile propaganda-gedopte glühende Putin-anhänger sind. Auch ist mir klar, dass nicht jeder, der russisch spricht, eine persönliche Schuld an dem Krieg in der Ukraine trägt. Auch will ich nicht unerwähnt lassen, dass es viele seeehr attraktive Russinnen gibt.  

Aber.

Wenn ich russisch höre, stellen sich mir die Nackenhaare auf; kyrillische Buchstaben lassen mich die Augen aggressiv verengen. Hier in Lettland, da ist das ex-sowjetische / russische in vielerlei Hinsicht präsent. Deshalb an dieser Stelle etwas lettische Geschichte, ein paar Gedanken, und auch Beobachtungen und Gespräche.

Lettland erklärte sich kurz nach dem ersten Weltkrieg für unabhängig, und weder das Deutsche Reich als Kriegsverlierer noch das durch eigene Probleme beschäftigte Russische Reich konnten dem viel entgegensetzen. Es gab schon damals eine russiche und russischsprachige Minderheit in dem neuen Staat, unter 10%. Das Ganze hielt dann ungefähr 22 Jahre, als die Sowjetunion die Letten (und die anderen Balten) freundlich bat, Ihnen zu erlauben ein paar Militärstützpunkte im Land zu errichten. Freundlich, wie die freundliche Neugier in der Frage „Haben Sie schonmal mit gebrochenen Fingern Ihre Zähne aus einer Blutlache zusammengesammelt?“. 1940 wurden dann die in Lettland unterdrückten Bolschewiken von der UdSSR befreit, und Lettland durfte sich endlich als lettische Sowjetrepublik der SU anschließen, bekamen auch gleich so befreiende Institutionen wie die Cheka und den NKWD mitgeliefert und die Wehrpflicht in der Sowjetarmee. Tausende starben oder wurden deportiert bzw. Lettland wurde von der Bourgeoisie befreit. Als Sowjetrepublik war aber auch Lettland von Hitlers Überfall auf die UdSSR betroffen, und 1941 befreite Deutschland Lettland von den blöden Russen. Das hat damals auch einige Letten wirklich gefreut, allerdings waren sie dann schnell enttäuscht, weil die Deutschen die Gegend als Teil der erbeuteten Sowjetunion ansahen – „meins“. Immerhin konnten die Nazis auch einige Letten als Freiwillige im Kampf gegen die Russen gewinnen. In den nächsten Jahren wurde Lettland dann von Juden befreit, und 1944 waren es wieder die Sowjets, die Lettland befreiten. Die Sowjets waren nun von der Treue der Letten nicht mehr ganz überzeugt, und so wie in der gesamten Sowjetunion herrschte Stalin-Terror, mit Deportationen und Gulags. Da das ganze Sowjetsystem aber natürlich russisch geprägt war, waren es für die Letten nicht ‚unserer verrückter Diktator‘ sondern einfach ‚Besatzer‘. Ģirts erzählt, dass seine Mutter Russen noch immer hasst. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnten sich die Letten wieder für unabhängig erklären, und nun sind über dreißig Jahre vergangen. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit war die russische Minderheit bei 34%.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Sowjets auch aufmüpfige Sibirier nach Lettland deportierten, aber klar ist: unter der Planwirtschaft in der UdSSR wurden Menschen fröhlich verschoben – war ja alles in einem Land. Wir planen in Riga eine große Fabrik für mittelgroße Diesellokomotiven, da schicken wir mal den Professor, die hundert Ingenieure und ein paar tausend Arbeiter hin. Militärangehörige kamen, und blieben dann im Ruhestand in der Gegend. Russisch war nun die Amtssprache, Lettisch nur noch eine tolerierte Minderheitensprache. Jeder, der mehr sein wollte als Hilfsarbeiter musste russisch können, aber viele Immigranten sahen überhaupt keine Notwendigkeit Lettisch zu lernen. Noch immer tut sich Lettland mit diesem Erbe schwer. Lettischer Bürger wurde nur, wer schon vor 1940 in Lettland lebte, und deren Nachfahren. Viele im Land wurden lettische Nicht-Bürger, die Abgrenzung zu Staatenlosen ist kompliziert. Eine Einbürgerung ist möglich, auf internationalen Druck mehrfach vereinfacht, aber die größte Hürde bleibt: der Kandidat muss Lettisch können, und sich zu bestimmten Prinzipien bekennen, die im Gegensatz zu einem russisch geprägtem Geschichtsverständnis stehen. Noch immer gibt es über 200.00 Nicht-Bürger, über 10% der Bevölkerung.

Heute liegt der Anteil der russischen Minderheit bei 26%, und Ģirts meint, sie wären in sich stark gespalten. Eine Gruppe moderner, westlich orientierter die mit Putin sicher nix am Hut haben, sich in die Gesellschaft integriert haben, auch häufig gemischt geheiratet haben; und eine andere Gruppe, meist in größeren Städten, die in ihrer russischen Blase leben, und die lieber an die russische Propaganda glauben, als ihre gesamte vergangene Lebenswirklichkeit in Frage zu stellen.

Der Ukraine-Krieg hat darauf ein Schlaglicht geworfen. Die Balten fühlen sich zu Recht bedroht, und wollen das russische weiter zurückdrängen, und die Russen fühlen sich verfolgt und diskriminiert, wenn jetzt am Bahnhof das kyrillische вокзал abmontiert wird – doch nur ein Zeichen dafür, dass alle gegen die Russen sind. Tatsächlich sehen wir in Riga knapp mehr ukrainische Flaggen als lettische, und auch an anderen Ecken merkt man es deutlich. Auf einem Platz steht ein wahres Meer an ukrainischen Flaggen, vor dem Gebäude an der anderen Straßenseite stehen zwei Polizeiwagen. Wir gucken genauer hin – vor dem Gebäude weht die russische Fahne – wir haben wohl die Botschaft gefunden. An der Fassade des Museums um die Ecke hängt – der Botschaft zugewandt, ein riesiges Bild von Putin mit einem Totenkopf gemorpht. Da geht dem Botschafter sicher jedesmal das Herz auf, wenn er aus dem Fenster sieht. Er wird sich auch darüber freuen, dass im Frühjahr 2022 die für die Postadresse maßgebliche Antonijasstraße in „Straße der ukrainischen Unabhängigkeit“ umbenannt wurde. Als wir am Abend Uldis (der Wirt, der uns auf eine Reise durch interessant aromatisierte lettische Schnäpse nimmt) auf die ukrainische Flaggen ansprechen meint er ohne jeglichen Pathos „Die kämpfen für uns.“ Auch Ģirts war sich sicher: hätte es Lettland nicht in die EU und die NATO geschafft, dann wäre Putin jetzt in ihrem Land.

Jetzt steht hier noch nicht viel zu Riga selber – aber ich schreibe ja auch keinen klassischen Reiseführer. Die Stadt ist auf alle Fälle eine Reise wert, aber das haben wohl schon einige andere gemerkt. Eine hohe Kneipendichte, alles authentisch lettisch. Wir laufen vorbei an Clayton McNamara’s Drinking Emporium, dem Aussie Backpacker’s Pub, Easy Wine, Rock Cafe Riga, Paddy Whelan’s Irish Pub und dem Naughty Squirrel Hostel. Das Schild an einem Pub macht klar, woher der Wind weht: „No stag nights, no hen parties“. Die Daugava, der große Fluss an dem Riga liegt, wäre nicht nur für die Seestern schiffbar, offensichtlich passen da auch die ganz großen Kreuzfahrtschiffe durch. Die haben wohl die ganzen Amerikaner mitgebracht, die Touriführern hinterherlaufen. Aber andere sind auch individuell unterwegs, müssen sich selber um ihr Mittagessen kümmern: „No, Tom, we did not come all the way to Riga to eat at McDonalds“. Die Altstadt ist schön wieder hergerichtet, in der Albertstraße stehen dicht an dicht beeindruckende Jugendstilbauten. Frank hat in Erfahrung gebracht, dass steuerliches Zuckerbrot und Peitsche die Eigentümer verpflichtet, die Fassaden entsprechend zu renovieren. Offensichtlich nur die Fassaden, ein Blick in eine Hofeinfahrt lässt noch ordentlich Gammel und Verfall erkennen. Zwischendrin dann noch ein paar Reste aus der Sowjetzeit – auch hier steht ein Kulturpalast in stalinistischem Zuckerbäckerstil, hier ein paar Skulpturen mit heroischen Befreiern aus der Arbeiterklasse.

Ģirts (Der nette Lette)

Ģirts ist die Allzweckwaffe von Pāvilosta. Hafenmeister, Zeltplatzverwalter, Tourismus-Minister, Marketingmanager, Fremdenführer und alles was man sonst noch braucht. Tatsächlich ist Ģirts der Grund, warum wir überhaupt in Pāvilosta sind. Als wir im Januar auf der Boot in Düsseldorf waren, war dort ein Messestand der baltischen Staaten, und Ģirts rührte eifrig die Trommel für Pāvilosta. „Der beste Hafen in Lettland, gemütlich und modern, leise, und perfekt angebunden. Es lohnt sich gar nicht, mit dem Schiff nach Riga zu fahren, besser Ihr kommt zu mir, und macht dann einen Ausflug mit dem Bus.“ Was besseres ist uns tatsächlich nicht eingefallen, und Pāvilosta liegt günstig an der Westküste von Lettland, von Gotland aus die kürzeste Strecke. Per Mail hatten wir mit Ģirts einen Liegeplatz reserviert, und er reagiert prompt auf meine SMS – um 5:30 morgens.

Von Valleviken nach Pāvilosta sind es ungefähr 90 Seemeilen, bei fünf Knoten sind das 18 Stunden, aber oft kann man die fünf Knoten auch nicht halten. Also, selbst wenn wir gaaaanz früh aufstehen, ist es nicht garantiert, dass wir noch im Hellen ankommen (was schon fein ist, wenn man den Hafen gar nicht kennt). Dann also ganz anders – wir fahren nachmittags weg, sind die kurze Nacht mitten auf der Ostsee und kommen gemütlich am Morgen in Lettland an. Nachts auf dem offenen Meer ist weniger gruselig, als es sich anhört. Keine Felsen, keine Untiefen, nur ein paar große Schiffe, die man aber mit AIS, ggf. Radar und auch mit bloßem Auge ganz gut sieht. Damit’s etwas spannender wird, verfolgt man den Funkverkehr. Die NATO macht gerade ein Manöver, Schiffe werden gebeten, ihren Kurs zu ändern, ein paar sind auf AIS sichtbar („German Warship Bayern, F217“), andere fahren lieber ohne, aber immerhin gut beleuchtet. Zwischendrin funkt Frank die „Marschall Rukossosvki“ an, dass sie sich an die Regeln hält und uns Segelschiff ausweicht – es wird ihre Fahrt nach Indien schon nicht so lange verzögern.

Der Wind bläst böig bis zu 28 Knoten, aber von der Seite, und so machen wir gute Fahrt. Auch die Welle, die sich aufbaut, bremst uns weniger als gedacht. Zwischendrin mache ich mir schon fast Sorgen, dass wir doch noch vor Sonnenaufgang ankommen, aber so eifrig ist die Seestern am Ende nicht. Die Welle ist mehr geworden, direkt von der Seite schaukelt das Schiff fröhlich hin und her. Ob das ein Thema bei der Hafeneinfahrt sein könnte? Wenn’s blöd läuft, brechen sich die Wellen direkt in der Hafeneinfahrt, so was kann ungemütlich sein. Doch Ģirts beruhigt, schickt um 5:30 per SMS mit einem Webcam-Bild, alles gut. Tatsächlich wird die Welle näher am Land viel weniger, wieder umsonst gesorgt. Kurz vor sieben legen wir in schönster Morgensonne an, es gibt ein Anlegebier für Frank und mich (Doro ist eher nur froh, wieder an Land zu sein), und dann nochmal ein kleines Nickerchen. Frank und ich haben uns zwar abgelöst, aber gut schläft man auf einer solchen Überfahrt nicht, besonders wenn man noch nicht todmüde ist.

Ab Mittag erkunden wir ein wenig die Stadt, oder nennen wir Pāvilosta mal lieber nur „Gemeinde“. An einigen Ecken mondäner Ferienort, aber gegenüber vom Hafen steht verfallene Sowjetarchitektur, inklusive Überwachungstürme. Am Nachmittag kommt dann Ģirts persönlich zum Schiff. Ein gemütlicher, etwas rundlicher Mann mit Vollbart und einem ausgeleierten Pulli, aber unglaublich freundlich. Da wir unser Schiff ein paar Wochen alleine liegen lassen wollen, empfiehlt er uns einen anderen Liegeplatz, der ruhiger und sicherer wäre, dafür weiter von den Toiletten. Wo genau? Er zeigt es mir, wir fahren kurz mit seinem Auto hin. Als ich sitze, fragt er, ob ich etwas Zeit habe – klar. Super, dann gibt’s jetzt ’ne kleine Stadtrundfahrt, die ich hier abgekürzt auch mit Euch mache.

Pāvilosta wurde 1879 von dem deutschen Baron Otto von Lilienfeld als Hafen gegründet, und nach seinem Bruder Paul benannt. Übersetzt heißt es also Paulshafen. Der Baron baute eine Ziegelfabrik, die Ziegel wurden nach Liepāja und Klaipėda verschifft, damals noch Libau und Memel. Später verlagerte sich der Erwerb eher hin zu Fischern, und in der Sowjetzeit war die Stadt und der Hafen weitestgehend militärisches Sperrgebiet – die UdSSR hatte hier Funk und Radar, und natürlich musste aufgepasst werden, dass nicht allzu viele imperialistische Flüchtlinge illegal einreisen. Ģirts erzählt einiges über die Geschichte, was mich wirklich interessiert. Lettland wurde nie erobert, meint er, aber sehr häufig befreit, nicht immer ganz freiwillig. Die Gebäude gegenüber vom Hafen nennt er nur abfällig „Schandflecken aus der Sowjetzeit“, aber erklärt, dass hier gebaut wird wie blöd – viele Feriendomizile von wohlhabenden Menschen aus Riga. Dadurch seien die Immobilienpreise wahnsinnig gestiegen, die lokale Bevölkerung kann sich kaum noch etwas leisten. Das erklärt wohl auch die interessante Mischung an Automobilen – große Mengen von allem, was modern und richtig teuer ist, und dann noch die Gruppe der Autos, die wahrscheinlich vor 15 Jahren noch in Deutschland fuhren, und dann in der ‚kaufe jedes Auto‘ Verwertung gelandet sind. Ģirts wedelt in Richtung einer besonders opulenten Villa – der Kollege da hätte einen Hubschrauberlandeplatz gebaut, als kleine Entschädigung für den Krach hat er die Kinder der Stadt auf kurze Rundflüge eingeladen. Ģirts kennt alle und jeden, winkt Spaziergängern und Autos zu, und erzählt bei einigen deren Lebensgeschichte. Hier ist noch die alte Ziegelfabrik, die zwischendrin eine Brauerei war, und als Ruine nun der Mittelpunkt eines Festivalgeländes darstellt, hier ist das Kulturhaus, dort wohnt ein berühmter lettischer Sänger, praktisch wenn man mal Karten braucht – einfach fragen. Er fährt über die Brücke über den Saka und schimpft: „Diese blöde Brücke, wäre die nicht da, wäre der Fluss auch für Segelschiffe noch fünf Kilometer weit schiffbar, was man da an Infrastruktur machen könnte…“ Überhaupt ist in er in mancherlei Hinsicht mit den Stadtväter oder jedenfalls den Hafeneigentümern nicht glücklich – keine Ahnung haben die, schau Dir mal den Schwimmsteg da an, die drei Liegeplätze in der Ecke kann man für nichts brauchen, höchstens eine Gummiente kann man da parken! Auf der anderen Seite ist eine Werft, der Campingplatz, und das ehemalige Kasernengebiet der Sowjets; dort die Unterkünfte der Offiziere. Aber das hässlichste sei mittlerweile abgerissen, die Grundstücke unter die Leute gebracht, und auch hier entstehen Ferienhäuser, alle möglichst nah am Strand, was in früheren Zeiten die am wenigsten begehrte Lage war – zu kalt, zu nass, zu windig, zu viel Meeresrauschen – wer will das schon? Nach einer knappen Stunde zeigt er mir noch den Liegeplatz, es wären 200m zu Fuß gewesen.

einen Dank an Wastl für die Idee zur reimenden Überschrift

Vereiste Häfen in Schweden

Die Klauen des Winters haben Stockholm noch nicht freigegeben – der Hafen ist noch von einer dicken Eisschicht bedeckt, der die Schifffahrt unmöglich gemacht. So ein Ärger, denn die bösen Dänen in Kopenhagen, bei denen ist schon eisfrei, und die schippern jetzt in der Ostsee herum, und gefährden damit die schwedischen militärischen Ambitionen. Da kommt Admiral Hans Wachtmeister eine gute Idee. Er überzeugt König Karl XI davon, in der neu zu Schweden gefallenen Provinz Blekinge einen weitaus südlicher gelegenen Flottenstützpunkt zu gründen. So entsteht 1679 Karlskrona. Die Gästemarina ist jüngeren Baujahrs; nach einem frühen Start in Utklippan laufen wir um 10 Uhr morgens ein. Mein Job ist es, im Marine- und Freizeitladen unsere neue Frischwasserpumpe zu kaufen, Terje hat sie dort für uns zurückgelegt. Außerdem erstehe ich eine Gastlandflagge für Schweden und auch gleich für das folgende Lettland.

Für Interessierte: Schiffe führen in der Regel die Flagge ihres Herkunftslandes entweder am Heck oder am Besanmast. Damit gibt sich die Seestern als deutsches Schiff zu erkennen. Würden wir ein Seegefecht verlieren, würden wir durch das Einholen der Flagge unsere Niederlage eingestehen, aber das ist der Seestern noch nie passiert. Um anzuerkennen, dass man sich in fremden Gewässern befindet, und vorhat, sich hier als Gast aufzuführen (also keine schwedischen Schiffe anzugreifen), hisst man noch an der Steuerbordsaling die Gastlandflagge. Vergisst man das, beleidigt man nach Seemannsbrauch das Gastland. Ein Schwede hat uns erklärt, dass es praktisch nicht gaaaanz so tragisch sei, keine Gastlandflagge zu haben, aber mit einer dänischen einzulaufen – das könnte die oben angeführten Rivalitäten wieder neu entfachen.

Wie viele Städte, die wir auf unserer Reise sehen werden, ist auch Karlskrona von der Unesco als Welterbe und damit wertvoll befunden wurde; besonders der (ehemalige) Marinestützpunkt. Auf dem mittlerweile nicht mehr militärisch genutztem Teil gibt es nun eine Marinemuseum – nix wie hin. Als besondere Attraktion wird der Wrack-Tunnel genannt – aus dem Museum führt ein Tunnel unter das Wasser und man kann in echt alte Wracks ansehen. In meinem Kopf habe ich Bilder der Titanic, wie sie nun aus tausenden Digitalfotos zusammengesetzt wurde; in dem Tunnel ist es aber eher trübes Wasser und einige schwer zu erkennende vermooste Balken. Immerhin ist es echt, ein Fisch schwimmt vorbei und beobachtet mich interessiert. Fazit: der Tunnel sieht im Reiseführer viel besser aus als in echt. Dennoch verbringe ich einige Stunden hier, bevor wir uns auf dem Schiff wieder treffen, um zu kochen (Nach vorherigen Erfahrungen in Skandinavien haben wir uns für diese Reise auf’s selber kochen geeinigt, denn Restaurants der unteren oder mittleren Preiskategorie sind nach deutschem Empfinden noch immer sehr teuer, und bieten dafür keine adäquate Leistung. Wenn in Skandinavien Essen gehen, dann gleich richtig edel – da fällt es nicht so auf).

Für Frank und mich sind das nun zwei Wochen Segelurlaub, aber unsere Mitreisenden haben jeweils nur eine Woche, mit einer kleinen Überschneidung in der Mitte. Mit Doro haben wir uns geeinigt, dass wir uns am Samstag in Kalmar treffen, die Strecke dorthin halbieren wir grob in Bergskvarna. Was für ein Nest – aber irgendwie nett. Da noch immer Vorsaison ist, liegen drei Segelboote längsseits an der Gästepier, die eigentlich für ein gutes Dutzend Boote nebeneinander gedacht ist. Größter Aufreger ist der Selbstmord von Corinnas Handy. Als sie an Land geht, springt es aus der Tasche in den kleinen Spalt zwischen der Seestern und der Hafenmauer. Wahrscheinlich fühlte es sich vernachlässigt. Wer den Schaden hat, der braucht für den Spott nicht zu sorgen, der kommt hier in den Bilder. Wir verlängern einen Kescher mit der Rettungsstange, und Corinna und Ihr Mann versuchen den Hafenboden damit abzukratzen. Immerhin sollte das Gerät bei doppelter Tiefe ca. 30 Minuten wasserdicht sein. Leider sind weder die abendlichen Versuche noch die am nächsten Tag bei besserem Licht, von Erfolg gekrönt.

Am nächsten Morgen machen wir uns auf nach Kalmar, und nicht nur wir. Auch Doro, die am Donnerstag nach Malmö geflogen ist, und dort am Freitag noch Remote-Office machen musste, ist auf den Weg nach Kalmar, allerdings per Zug. Ein schicksalhaftes Treffen bahnt sich an. Gemeinsam erkunden wir die Stadt. Kalmar hat eine historische Festung, die den mittelalterlichen Hafen schützte, heute dient sie der Edelgastronomie und als Selfie-Hintergrund. Endlich mal ein Gruppenfoto.

Damit sind wir das erste Mal mit Übernachten zu fünft auf der Seestern. Es klappt so, aber langsam wird’s schon eng. Über Wochen wäre es wohl nichts. Corinna und JUB überlegen sich ihre Abreise – wir könnten morgen an die Nordspitze von Öland fahren, und übermorgen nehmen die beiden dann ein Ruf-Bus und andere öffentliche Verkehrsmittel wieder zurück nach Kalmar – so schafft man sich erinnerungswürdige Komplikationen für die Reise. Und so kommt es dann auch – wir haben noch einen schönen Segeltag, bis wir am Abend in Nabbelund ankommen. Ein ehemaliger Fähranleger in einer geschützten Bucht, schon etwas zerfallen, aber für ein paar Segelschiffe wird’s schon reichen. Wie fast überall funktioniert der Hafen auch als Stellplatz für Wohnmobile. Nur der Weg zur Dusche ist etwas beschwerlich. Offensichtlich ist ein Möwenjunges ausgebüchst, und sitzt nun auf der Straße. Die Eltern sind etwas überfordert, es wieder in Richtung Nest zu bewegen, und verteidigen das Kleine nachdrücklich gegen jegliche Fressfeinde, wie eben schmutzige Segler.

Am nächsten Tag verlassen und morgens Corinna und JUB, und wir machen uns auf den Weg auf die nächste Insel. Für den ersten Teil der Strecke geben wir noch das Motorboot, aber dann kommt etwas Wind auf, und wir Segeln bis kurz vor Visby auf Gotland. Ich kenne die Insel hauptsächlich aus der schwedischen Krimiserie „Kripo Gotland“, aber in unserem Umfeld wird niemand ermordet, und es ermitteln keine Schauspieler. Muss aber daheim mal ein wenig in der Mediathek gucken, ob ich ein paar der Schauplätze erkenne. Wahrscheinlich wird die Serie aber auf einer Soundstage in Schwedisch-Hollywood gedreht. Wir probieren mal wieder ein schwedisches Restaurant – nicht sooo schlecht, aber ich schätze wir werden weiter recht häufig an Bord kochen. Die Stadt selbst ist knuffig, witzige kleine Häuser, alte Steine und Kirchruinen. Aber der Hafen ist unverhältnismäßig teuer, und so beschließen wir, einen Hafen weiter nach Norden zu fahren, in die Metropole Lickershamn. Früher wohl ein verschlafener Fischershafen, heute noch verschlafener mit ehemaligen Fischerhütten, die üblichen Wohnmobile, und ein fast leerer Hafen. Es ist warm und sonnig, ohne Wind wird’s Zeit für kurze Hosen. In einem seltenen Anfall von Putzwillen, beschließe ich das Cockpit mal sauber zu machen. Obwohl ich ungern putze, macht das Planschen Spaß; eimerweise Wasser über’s Schiff zu kippen. Leider kommt mir dabei der Eimer – auf einem Schiff Pütz genannt – aus. Ich gebe mich aber nicht so schnell geschlagen, am nächsten Morgen engagiere ich einen Taucher. Am Abend dann noch einen Sunset mit Tequila Sunrise – die Eiswürfel müssen genutzt werden. Ich versuche eine Zeitraffer-Aufnahme des Sonnenuntergangs zu machen, aber wie bei so etwas üblich verreckt der Akku gerade als die Sonne im Meer versinkt.

Das mit dem Taucher ist kein Witz – der Kollege ist ein Profi mit Support von Land – dort steht der Kompressor, mit einer langen geschlängelten Leitung wird er versorgt, kann sogar mit den Kollegen reden. Als ich auf dem Weg zur Dusche bin, sehe ich ihn, begrüße ihn freundlich mit „Das wäre jetzt aber nicht nötig gewesen, mit so einem Aufwand wegen unserer Pütz zu kommen“. Er schaut irritiert, eigentlich wird er für die Sanierung des Kais bezahlt. Aber er hört sich mein Unglück an, meint pragmatisch, dass so ein Eimer ja auch einfach nicht ins Meer gehört, als ich vom Duschen zurückkomme steht er wieder an Deck. Als ‚Bezahlung‘ bringe ich den zwei Arbeitern auf der Hafenmauer drei Dosen polnischen Biers; sie bedanken sich erfreut und wiederholt. Offensichtlich teilen Sie den Biergewinn auch dem Taucher mit, auch wenn ich den Wortlaut nicht verstehe, vernehme ich fröhliches Gelächter aus der Tiefe (also aus dem Lautsprecher, der aus der Tiefe gespeist wird). Wir legen ab, ohne den Taucher zu zerhäckseln, und machen uns auf den Weg um die Nordspitze Gotlands. Nachdem die Segelei der letzten Tage jeweils nur auf Segel setzten und ein paar Stunden später Segel bergen beschränkt haben, gibt es heute tatsächlich ein paar Manöver, wir müssen etwas gegen den Wind ankreuzen, für eine Strecke ganz im Norden machen wir auch ganz faul den Motor an – das Kreuzen ist zäh, besonders bei der Welle, und wir wollen ja auch noch ankommen. Nachdem wir den nördlichsten Punkt unseren Reise erreicht haben, biegen wir nach Süden in den Farösund ein, zwischen Gotland und der vorgelagerten Insel Farö. Hier ist keine Welle, und wir Segeln durch das eher enge, betonnte Fahrwasser. Am südlichen Ende des Sunds biegt dieser ein wenig gegen den Wind ab, und wir müssen alle paar hundert Meter wenden. Ich bin etwas feig, den Motor lasse ich im Leerlauf mitlaufen, denn wenn man eine Wende verkackt, ist die nächste Untiefe nicht weit. Aber wir schaffen die gesamt Strecke, ohne den Gang einzulegen, und segeln bis kurz vor dem Ziel der Wind einschläft.

Als Übernachtungsplatz haben wir uns Valleviken ausgesucht – ein ehemaliger Kalkhafen, der schon mal bessere Zeiten gesehen hat. Auf dem Gelände neben dem Hafen stehen neben den obligatorischen Wohnmobilen auch einige Boote, die so aussehen, als wären sie schon lange nicht mehr im Wasser gewesen, und ein paar düstere Lagerhallen aus bunt gemischten Materialien. Wenn man hier trüberes Wetter abwartet, könnte es gut als Kulisse für den nächsten Gotland-Krimi dienen. Aber der Hafen liegt günstig, um am nächsten Tag den Sprung nach Lettland zu wagen.

Świnoujście nach Utklippan

Die sechzig-köpfige Garnison von Christiansø ist bereit. Kanonen starren in alle Himmelsrichtungen aus den Schießscharten, seit Jahrhunderten wurde die Insel nicht vom Feind eingenommen. Langsam nähert sich das Schiff mit ca. 100 Invasoren an Bord, alle sind bereit.

Na gut, wir relativieren das. Die Garnison besteht im Wesentlichen aus Mitarbeitern der Gastronomie und anderen Zweigen der Tourismus-Industrie, die Vorbereitung besteht im Aufdecken der Tische auf der Sonnenterasse, und die 100 Invasoren sind ganz einfach Tagestouristen, die von Bornholm hier nach Christiansø mit der Fähre kommen. Kanonen starren tatsächlich in alle Himmelsrichtungen, aber sie sind mit Beton gefüllt und rosten friedlich vor sich hin.

Wikipedia erklärt: Christiansø bildet mit Frederiksø, Græsholm und kleineren Felsen eine Schären-Inselgruppe in der Ostsee 18 Kilometer nordöstlich von Bornholm, die den Namen Ertholmene (die Erbseninseln) trägt und der östlichste Punkt Dänemarks ist. Im Jahre 1684 befahl König Christian V. auf der Inselgruppe, die bereits einen Naturhafen hatte, den Bau der Seefestung Christiansø mit einem befestigten Hafen für die dänische Flotte und ließ für diesen Anlass Medaillen prägen. Noch im selben Jahr wurde mit dem Bau des Großen und Kleinen Turms sowie von Bastionen, Kasernen, Werkstätten und Häusern für Munition begonnen. Die Festungsanlage diente auch der Handelsschifffahrt und wurde von rund 300 Handelsschiffen jährlich angelaufen. Die Festungsmauern, Bastionen und Türme sind bis heute erhalten geblieben und geben der Insel ihr Gepräge. Die Ertholmene sind einer der wärmsten, sonnenreichsten und trockensten Plätze Dänemarks, so dass hier auch Feigen, Walnuss- und Maulbeerbäume gedeihen können.

Christiansø war die bislang beste Entscheidung unserer Reise auf der Ostsee, und da zähle ich auch letztes Jahr dazu. Eine der schönsten Flecken Erde, die ich besucht habe (ich will mich aber lieber nicht festlegen wie viele ’schönste‘ Orte ich im Kopf habe). Am Pfingstsonntag sind wir von Swinemünde nach Bornholm gefahren, nach ca. der Hälfte der Strecke kam auch genügend Wind auf, dass wir den Blister (ein Leichtwindsegel in den Modefarben des Baujahres unsere Schiffes; very Eighties) gesetzt haben. Um halb elf Uhr nachts sind wir dann in Nexö eingelaufen, der zweitgrößte Stadt auf der Insel Bornholm (das wir uns richtig verstehen: groß ist die Stadt deswegen im internationalen Maßstab nicht). In Nexö sollten Corinna und JUB die Gelegenheit haben, etwas von Bornholm zu erkunden, und Frank und ich wollten uns um ein paar weitere Baustellen auf dem Schiff kümmern. Seit Swindemünde streikt unsere Frischwasserpumpe, ein Lager ist kaputt, aber das wissen wir natürlich noch nicht. Wir merken nur, dass kein Wasser aus unserem Tank in die Spüle gepumpt wird. Also Fehleranalyse, ausbauen, auseinanderbauen, saubermachen, testen, funktioniert, zusammenbauen, testen, funktioniert nicht mehr, wieder auseinanderbauen, dann fehlt ein Werkzeug, am Schiff nebenan ausleihen, usw… Wir stellen fest, dass das Lager vom Motor kaputt ist, und sich kaum noch dreht, jedenfalls nicht die Kugeln. Am Ende sprühen wir WD40, Silikonspray und Marine-Fett in das Lager, es dreht sich wieder, auch wenn der Radau uns klar macht – lange geht das nimmer. Gegen Mittag sind wir fertig, kochen noch etwas, und brechen dann doch ungeplanterweise eben nach Christiansø auf. Abends um acht sind wir da, legen neben zwei anderen Yachten im Päckchen an und machen eine erste Erkundung über die Insel. Wie soll man’s beschreiben? Un-fucking-glaublich idyllisch, beide Hauptinseln lassen sich in einer Stunde umschlendern, die Zeit scheint vor 200 Jahren stehen geblieben zu sein, lauter kleine Häuschen, und nicht viel los. Unsere Bootsnachbarn (aus Abendsberg) beschreiben die Insel als Wimmelbild, und dem kann ich mich anschließen.

Dienstag ist sehr wenig Wind angesagt, und der auch noch aus der falschen Richtung, also machen wir hier einen Hafentag bei bestem Wetter und ohne kühlen Wind. Ungefähr um halb elf legt das Postschiff an, ein Kühlschrank und einige Paletten mit Getränken werden ausgeladen, und ein Dutzend Mülltonnen an Bord des Schiffes für den Transport nach Bornholm aufgeladen. Es bleibt idyllisch. Das ändert sich um elf – die Personenfähre aus Bornholm kommt an und spuckt vielleicht hundert Tagestouristen aus. Ach was komme ich mir überlegen vor – durch’s Übernachten sind wir ja schon fast Inselbewohner und können auf diese ganzen yachtlosen Touristen herabblicken. Obwohl – stimmt nicht ganz, man blickt zu Ihnen auf, während sie an der Hafenmauer stehen, und man selber unten im Cockpit sitzt und dort in der Sonne seinen Campari-Orange trinkt – seit dieser Saison haben wir eine zweite Kühltruhe, die kalt genug für Eiswürfel schafft.

Ach ja – und ich setze mich in die Wirtschaft, die gestern Abend noch komplett verlassen war, und schreibe bei einem Bier mal wieder Blog.

Am Mittwoch fahren wir in Richtung Schweden. Der Wind kommt in Böen bis Windstärke sieben kräftig von schräg hinten, und wir jagen mit bis zu 9 Knoten gen Norden. Es hat auch ordentlich Welle, die sich immer mehr aufbaut. Stolz sind wir auf unsere Mitreisende, die nur bedingt seekrankheits-resistent ist, aber die ganze Fahrt mit Bravour überstanden hat. Unser Ziel ist Utklippan, eine einsame Insel, die nicht ganz das Ende der Welt ist, aber das südöstlichste Ende von Schweden. Auf einer kleinen Schärengruppe, auf der ein alter Leuchtturm steht, wurde ein Hafenbecken in den Fels gesprengt, durch eine sehr enge Einfahrt kommt man von Osten oder Westen rein. Es hat zwar noch heftigen Seitenwind, aber wir sind das zweite Boot im Hafen und legen an. Die Insel zählt jetzt nicht zu den ’schönsten‘ aber sehr witzig. Es gibt ein kleines Plumpsklo an der Hafenmauer, laut Reiseführer ein „Müllbad“, und eine kleine Hütte, die wir Yachtklub taufen – große Fenster nach Westen, den ganzen Tag in der Sonne, auch hier lässt sich Blog schreiben. Am Ende sind es sechs Boote im Hafen, Frank kocht uns ein Risotto, wir fotografieren den Sonnenuntergang – der Urlaub lässt sich gut an.

Was gibt’s alles Neues zu lesen?

Ich bleibe dabei, die Blogartikel so anzuordnen, als wären sie just dann, als sie passierten, veröffentlicht worden. Nur so ergibt sich später eine chronologische Reihenfolge. Hier sind die Links zu den neuesten Inhalten:

am 12.8. veröffentlicht: Costa de la Muerte – die Todesküste und die Biskaya

am 13.8. veröffentlicht: D-Day – auf in die Normandie

am 14.8. veröffentlicht: Von der Macht des Mondes – Tidengewässer

am 23.8. veröffentlich: Brügge sehen und st…ravanzen

am 27.8. veröffentlicht: Groeten uit Lisse

Coming soon: die zweite Hälfte der Reise mit JUB

Neu: am 2.9. veröffentlicht: Ist das Kunst, oder kann das weg? | Torfprogramm – Geschichten von unterwegs

Übrigens: haben in Holland aktuell keine so tolle Internet-Karte. Fotos werden nachgeliefert.

Ist das Kunst, oder kann das weg?

Stromkästen mit Graffiti drauf – eigentlich nur ‚Tags‘, also mit Edding hingeschmierte Initialen, ähnlich einen von einem Hund angepinkelten Baum, daran hat man sich im Stadtbild gewöhnt. Dass sie uns im Stedelijk Museum für moderne Kunst in Amsterdam begegnen, 3 Stück, einfach im Raum abgestellt – da komme ich mir verarscht vor. Ein Gefühl, welches ich Banause bei moderner Kunst öfters habe. Aber ich will nicht böse sein. Ein paar der Ideen sind wirklich witzig. Eine Sonderausstellung ist Bruce Naumann gewidmet, der wohl verschiedene Schaffensperioden hatte. Videoinstallationen (der Künstler filmte sich, wie er langsam ein Quadrat abschritt), Schriftkunst mit gebogenen Neonröhren (mit sich veränderten Botschaften statt Bierwerbung), und etwas Skulptur (ein paar Metallträger hängen von der Decke). Aber auch faszinierende Werke anderer Künstler – ein Afrikaner hat abertausende Kronkorken und ähnliches plattgeklopft, mit Kupferdraht verbunden, und ein ca. 24 qm großen Wandteppich geschaffen. Dann noch Designkunst, wo ich mit Ramsi überlege, was wohl in die Wohnung passen würde. Ein paar der Stücke werden ja in Lizenz gefertigt und könnten einfach gekauft werden.

Wir machen den Amsterdam Museums Marathon. Eigentlich hatte es unschuldig angefangen. Etwas schmutzige Wäsche in einer Wäscherei an der Javastraat abgegeben – fertig in zwei Stunden – und dann nur eine Stunde mit Frühstück vertrödelt. Als es anfängt zu regnen, stehen wir zufällig vor dem Tropenmuseum, und – warum eigentlich nicht. Wir haben in Amsterdam Crew-Wechsel gemacht. Franks Sabbatical ist mit dem Ende des Augusts vorbei, und auch JUB fährt zurück nach Deutschland. Am Tag davor ist Ramsi aus Berlin gekommen, und übermorgen kommt Stephan. Weder Wind noch Wetter machen mal kurz um die Ecke segeln bis dahin besonders attraktiv. Auch uns begleitet der suboptimale Sommer 2021. Eine Fünf-Museums-Tourikarte besiegelt unseren Plan. Das Tropenmuseum ist nicht uninteressant, etwas niederländische Kolonialgeschichte in Indonesien, aber fesselt uns nicht länger als zwei Stunden. Nachdem wir die saubere Wäsche am Schiff abgeliefert haben, machen wir uns auf die Socken ins eingangs erwähnte Stedelijk Museum. Am Abend etwas Hopfentee und eine indonesische Reistafel – die Kolonialgeschichte hat die holländische Küche deutlich bereichert.

Am nächsten Morgen dann mit straffem Programm – das Naturkundemuseum NEMO (viel zum Anfassen, Knöpfe zum Drücken, wie das deutsche Museum in besten Zeiten), und dann das Van Gogh Museum. Begleitet von einer gut gemachten Audiotour auf drei Etagen Werke des zu Lebzeiten verkannten Genies (na gut, a bisserl verrückt auch), und dessen Inspirationen und Inspirierten. Selfie vor den Sonnenblumen von Van Gogh, danach Selfie mit echten Sonnenblumen in der Stadt. Mit einem Pub-Crawl-Light laufen wir zum Hafen zurück. Die beiden Marinas, die richtig nah an der Stadtmitte sind, haben leider keinen Platz für uns, so sind wir im Entrepôt-Hafen östlich des Zentrums abgestiegen.   

Vor Stephans Ankunft am Dienstagnachmittag noch das Rijksmuseum – die Heimat von Rembrandts berühmter Nachtwache, die eigentlich gar keine Nachtwache darstellt. Aber Rembrandt liebte dramatische Hell-Dunkel-Kombinationen um seine Figuren zu betonen, und so dichtete die Nachwelt dem Bild die Nachtwache an. Das Bild wird gerade restauriert, aber in voller Sicht der Öffentlichkeit – so sieht der geneigte Tourist die wichtigste Tradition weiterhin, auch wenn vor dem Gesicht des Leutnants eine Hebebühne mit einem Konservator im Kittel steht. Das Rijksmuseum ist riesig, nach drei Stunden werden wir müde, durchschreiten deshalb zügig die Abteilung für Rokoko, und halten nur noch nach bekannten Meisterwerken Ausschau. Auch dem Delfter Porzellan und dem silbernen Tischschmuck schenken wir nicht die gebotene Aufmerksamkeit – das nächste Mal, ich versprech’s.

Wir treffen Stephan praktischerweise in einer Kneipe, und können uns erstmal ein wenig erholen. Ich will weder weiterlaufen noch stehen. Spaziergang durch Amsterdam zum Bahnhof, Tram Richtung Schiff, ein kleiner Burger in unserer ‚hood – vor Mitternacht schläft das ganze Schiff. Mittwoch geht’s wieder aufs Marker- und IJsselmeer.

Groeten uit Lisse

Stau. Auf der Autobahn. Jan der Trucker trommelt mit den Fingern auf dem Lenkrad. Im Auto nebenan müsste die kleine Antje eigentlich auf’s Klo, aber die Ausfahrt zur nächsten Raststätte ist halt noch nicht da. Und warum das Ganze? Über die Autobahn ist eine Schranke geschlossen, hinter der Schranke ist die Klappbrücke geöffnet. Ein Segelschiff schiebt sich durch die Lücke. Eigentlich eine schöne Ketch, aber Frechheit, hier wegen einem Schiff, deutsche Touristen auch noch, den ganzen Verkehr aufzuhalten. Die Seestern ist in Holland angekommen.

Habt Ihr schonmal von Lisse gehört? Lisse, nicht Lissy. Eine Kleinstadt in Südholland, an der Kanalroute nach Haarlem, und später Amsterdam. Wir bleiben hier etwas. Die Stadt hat den historischen Charme von Neuperlach, mehr Lieferdienstfahr- oder Motorräder als echte Restaurants, und eine kleine Marina für Schiffe bis 1,75m Tiefgang. Wir haben 2,10m. Kein Problem, meinte der Hafenmeister, ihr könnt da draußen längsseits anlegen. Ois easy, aber vor der Vollendung des Anlegers geht es nicht mehr weiter. Das Eindampfen in die Achterleine funktioniert nicht, die Seestern will nicht näher ans Ufer. Bei der Ursachenforschung stellen wir fest, dass unser Tiefenmesser nur noch 1,90m anzeigt – offensichtlich steigt das Ufer etwas steiler an. Der Hafenmeister bleibt bei – kein Problem; wir vertäuen die Seestern halt einen knappen Meter vom Ufer, und legen unsere Gangway über. Der geneigte Leser könnte sich denken: Das ist jetzt aber untypisch für die Reise, wo wir doch meist etwas genauer planen. Doch nicht alles lässt sich perfekt planen, bzw. es gibt halt ein paar Unwägbarkeiten. Deshalb: Groeten uit Lisse – Grüße aus Lisse.

Aber wir kamen wir hier her? Nach dem Tag in Antwerpen legen wir in Oostende ab, fahren auf die Nordsee hinaus, und fahren weiter nach Nordosten über die Weesterschelde, gen Holland. Dabei fahren wir durch Wassertiefen, die uns im Mittelmeer schon deutlich höheren Blutdruck verursacht hätten. Einstellige Tiefenangaben, teilweise nur 2 Meter Wasser unterm Kiel. Zwar immer noch mehr als die sprichwörtliche „Handbreit“, aber wenn wir hier untergehen würden, wäre ein großer Teil des Schiffs noch über Wasser. Vorbei an der Westkapelle, die ganze Zeit unter Segeln. Der Eingang der Oosterschelde (den nächste größere Küsteneinschnitt) ist durch ein Flutbauwerk versperrt. Eigentlich zum Meer offen, dahinter hat es auch noch Ebbe und Flut, aber bei einer Sturmflut auf der Ostsee (Also Springhochwasser und dann noch mehrere Tage Sturm aus Nordwesten) könnte man die Tore schließen, und so verhindern, dass die Niederlande (wirklich nieder, das Land) vollläuft. Da eine einfache Durchfahrt in dem Bauwerk wahrscheinlich so krasse Strömungen hätte, dass man kaum ungeschoren durchkäme, gibt es die Roompotsluis, die wir auf Kanal 18 anfunken. Freundlich machen sie uns die Schleuse auf, und wir sind im Binnenland. Das Schifffahren in den Niederlanden ist wieder eine ganz andere Nummer: plötzlich sind Brückenöffnungszeiten und Schleusenzeiten zu berücksichtigen, und eine ganz neue Etikette. Wie weit vorher ruft man bei der Brücke an? Wenn es feste Öffnungszeiten gibt, sollte man sich dennoch melden? Wie nah kann man an die geschlossene Brücke fahren? Muss man warten, bis die Ampel grün wird, oder kann man fahren, wenn man denkt, durchzupassen? Es gibt auch rot&grün gleichzeitig. Nach der Roompotsluis ist das nächste Hindernis die Zeelandbrug, mit festen Öffnungszeiten. Ungefähr eine gute Stunde Strecke, ungefähr eine knappe Stunde Zeit. Aber aktuell geht es auf Niedrigwasser zu, wir haben Strömung gegen uns. Also tuckern wir mit geringer Drehzahl, und gesetztem Vorsegel, mit dem Ziel, die Strecke in knappen zwei Stunden zu durchfahren. Wir sind zu schnell. Irgendwann schalten wir den Motor aus. Dann reffen wir auch noch das Vorsegel. Dennoch kommen wir fast zwanzig Minuten zu früh an, und dümpeln dann kreisend vor der Brücke. Per Funk klären wir mit dem Brückenwärter: Er ist sowieso nicht vor Ort, aber er schaut immer fünf Minuten vor der geplanten Zeit mit diversen Videokameras um die Brücke, und wenn dort jemand warten, macht er auf. Und wirklich, zur im Internet gefundenen Zeit hören wir ein Klingeln, Schranken auf der Straße senken sich, ein Tanklastzug hält an, hinter ihm ein Kombi, die Ampel schaltet von rot auf rot-grün, und die Brücke geht auf. Ein 20 Meter breites Segment von einer kilometerlangen Brücke. Ob es wirklich Antje und Jan sind da oben, das habe ich erfunden.

Unseren ursprünglichen Plan, bis Willemstad zu fahren, müssen wir in die Tonne treten. Zu groß die Verzögerungen, zu schwach der Wind vorher. Wir rufen ein paar der Marinas in der Nähe an. Für eine müssten wir bis Mitternacht warten, bis der Wasserstand wieder hoch genug ist. Am Ende entscheiden wir uns für Sint-Annaland. Wir bekommen telefonisch den Platz B12 zugewiesen. Wir tuckern weiter – auch hier gibt’s große Schiffe, aber sie sehen ganz anders aus: lange Binnenschiffe, also die klassischen schmalen Flusskähne mit niedrigem Freibord. Sind trotzdem schneller als wir. Es ist schon nach Sonnenuntergang, nur noch etwas dämmriges Licht, als wir von dem breiten Fahrwasser abbiegen. Das Fahrwasser nach Sint-Annaland ist markiert, aber mit unbeleuchteten Tonnen. Ich starre auf das GPS, Frank vom Vordeck nach vorne. Wir schaffen es in den Hafen, und scheuchen einen freundlichen Niederländer von seinem Abend-Wein auf, dass er uns den Liegeplatz zeigt. Wir liegen.

Am nächsten Morgen geht es weiter in Richtung Rotterdam. Wir haben beschlossen, die „Staande Mastroute“ zu fahren, eine Inlandsstrecke durch die Niederlande, die überall Klappbrücken hat, so dass man sie auch mit stehendem Mast befahren kann. Das Bild vor meinen Augen – schnuckelige Kanäle, immer mal wieder ein Anlegesteg am Rand mit einer Kneipe – bestätigt sich nicht. Das Treiben ist von der Berufsschifffahrt geprägt, aber Segler sind gelitten. Es gibt auch zwei Schleusen, in einer (die groß genug ist für ein großes Binnenschiff), werden gleichzeitig ca. 24 Freizeitschiffe geschleust, immer je ein Schiff an jeder Seite, und daran jeweils eines im Päckchen. Davon ca. 6-7 Reihen hintereinander. Erfordert etwas Spontaneität beim Anlegen, weil unser Plan, rechts an der Schleusenseite anzulegen durch einen fuchtelnden Schleusenwärter zunichte gemacht wird, und wir mit backbord an einem anderen Schiff anlegen müssen. Auch hier verlieren wir wieder einiges an Zeit, und – Überraschung – nicht jede der Brücken wird für uns geöffnet, bloß weil wir jetzt da sind. Im Wesentlichen lernen wir drei Typen kennen:

  • Die brachiale Klappbrücke – irgendwo unter der Straße ist eine kräftige Mechanik, und die Straße klappt einfach hoch.
  • Die Zugbrücke – auch diese klappt hoch, aber sie wird dabei durch einen obenliegenden Hebel mit Gegengewicht unterstützt. Dadurch wirkt es eben wie eine Zugbrücke.
  • Die Hebebrücke – beiderseits der Durchfahrt steht ein Portal, und die Brücke wird mit Seilzügen nach oben gehoben. Diese wird recht häufig für Eisenbahnbrücken verwendet, und es gibt Modelle mit aufwändig gestalteter durchgehender Oberleitung, und solche ohne – hier muss der Elektrozug wohl genügend Anlauf nehmen.

Eigentlich ist unser Ziel Rotterdam – hier wollen wir am Freitag JUB treffen, der eine gute Woche mit uns fährt. Aber auch hier sind unsere Planungen daneben – wir halten in Alblasserdam, einem kleinen Hafenbecken an der Noord, wo wir eher knapp direkt neben der Einfahrt anlegen. Erst am nächsten Morgen fahren wir weiter nach Rotterdam, mit einem kleinen Ausflug auf der Lek, um die Windmühlen am Kinderdijk zu sehen. Nicht so berauschend, denn die Windmühlen – die eigentlich Wind-Entwässerungspumpen sind – stehen in dem durch Deiche geschützte Polder, und dienen, um das Wasser aus genau diesem konstant rauszupumpen (es kommen dann noch ein paar Fotos dazu, die ich 2017 bei einem Ausflug per Land gemacht habe). Um elf Uhr morgens kommen wir dann in der Rotterdam City Marina an, die ihren Namen wirklich verdient – auf allen Seiten ist das Hafenbecken von drei- bis fünfstöckigen Gebäuden geschützt. Eine professionelle Hafenrundfahrt (die Industriehäfen sind für uns off limits) später, und wir begrüßen JUB.

Am nächsten Morgen geht es weiter gen Norden – die staande Mastroute nach Amsterdam, bzw. eigentlich nach Haarlem (es gibt auch eine Strecke direkt durch Amsterdam, aber dort sind sie wegen Berufsverkehr etwas komisch, deshalb gibt es nur nachts eine Durchfahrt im Konvoi). In den Kanälen und Flüssen bewahrheitet sich mein geistiges Bild ein wenig mehr. Das Fahrwasser schmäler, und an den Rändern öfters mal recht adrette Häuser. Insgesamt hat man allerdings das Gefühl, dass es in den Niederlanden keine so strenge Bebauungspläne gibt wie in Deutschland. Industriepier liegt neben Wohnhaus, hier ein verfallenes Stahlwerk, hier ein kleiner Abzweig in einen Containerhafen, hier eine große Villa mit eigenem Anlegesteg: „Privat – Anlegen verboten“. Wir kommen am Nachmittag nach Alphen a/d Rijn, sind jetzt also irgendwie im Rhein, der in der Stadt aber nur dreißig Meter breit ist. Unser Kanalführer weist in der Stadtmitte ein paar Anlegestellen aus, und die Brücken in der Stadt sollen angeblich nur von 9-18h bedient werden. Es ist nicht gaaaaanz klar, ob man hier übernachten darf, oder nur kurz anlegen, also vertrödeln wir etwas Zeit, und nach 18 Uhr haben wir ja ’ne prima Ausrede, warum wir nicht weiter können. Der Kanalführer (in Sint-Annaland frisch gekauft) lügt allerdings – auch nach sechs geht die Brücke mehrmals auf. Aber niemand scheint sich daran zu stören, und wir gehen in einem Steak und Käse (klasse Kombi) Restaurant essen.

Am nächsten Morgen geht es weiter – der Kanal wird noch etwas kleiner, an den meisten Häusern hat es entweder einen Steg oder eine kleine Hebevorrichtung für Motorboote. Manchmal schwimmen Kinder im Wasser, eine neue Herausforderung bei der Navigation. Wir wollen weiter nach Haarlem. In Leiden informiert uns die Brückenwächterin, dass wir uns beeilen sollen, ab elf Uhr sind alle Brücken (oder der Kanal?) wegen eines Triathlons geschlossen. Also nach der Brücke immer schön Gas geben. Durch die Öffnungszeiten ergibt sich automatisch eine Art Konvoi – nördlich von Leiden sind wir vier Segelboote, die entspannt hintereinander herfahren; praktisch für uns, denn die Niederländer werden sich schon um den nötigen Funkverkehr kümmern, haben das wahrscheinlich schon öfters gemacht. Vor geschlossenen Brücken – aber in Sichtweite – drosseln alle ihre Fahrt, und dümpeln dann so im Fahrwasser umher. Kein befriedigender Zustand – Holland ist flach, also vertreibt einen der Wind, und ohne Fahrt kann man nicht steuern; es wird also ab und zu gekringelt und gekreist, mal geht ein Bugstrahlruder – das Anlegen an den Wachtpunkten kann man meist vermeiden. Vor der Elsbroekerbrug aber legen die Boote vor uns dann doch alle an. Wir legen uns neben eine holländische Yacht, und der Eigner klärt uns auf: die Brücke ist kaputt. Offensichtlich seit ca. 20 Minuten. Der Lieferwagen des Notdienstes, mit blinkendem Gelblicht, steht neben der Brücke und unterstreicht die Situation. Wir hören den Funk mit – obwohl wir das holländisch nicht verstehen, hört es sich nicht gut an. Aber alle bedanken sich offensichtlich beim Monteur, dass er es am Sonntag probiert hat. Die Yacht neben uns informiert uns: es fehlt ein Ersatzteil, kommt frühestens morgen. Nach einiger Abwägung fahren wir zwei Meilen zurück nach Lisse.

Brügge sehen und st…ravanzen

„It’s Tuesday, this must be Belgium“ – mit zwei Filmtiteln geht dieser Beitrag los. Wir machen eine Spontantour durch Belgien. Unser Schiff haben wir in Oostende geparkt. Der Merkatorhafen dort liegt mitten in der Stadt und ungefähr 200m vom Bahnhof entfernt. Theoretisch ist auch Brügge über Flüsse und Kanäle angebunden, aber wir haben uns informiert: mit Mast geht es dorthin nicht. Also haben wir den nahegelegenen Bahnhof genutzt, und sind 13 Minuten nach Brügge gefahren. Dort treffen wir Saskia und Ihren Sohn Niki, meine Nachbarn aus der Kiesmüllerstraße. Die machen ein paar tage Urlaub in Belgien und den Niederlanden, und wir haben das Treffen so abgestimmt. Wir treffen uns um halb elf auf dem Marktplatz, trinken erst einmal einen Kaffee, und ich werde über die neuesten Geschichten von daheim aufs laufende gebracht. Die sollen jetzt aber nicht der Inhalt werden. Auf dem Weg hat Frank die These formuliert, wie man als Stadt zur Touristenattraktion wird: Zwei Jahrhunderte ökonomisch uninteressant zu sein. Dann lohnt es sich nicht, die historischen Bauten mit modernen zu ersetzen, als man deren Charme noch nicht verkaufen konnte, und auch im Krieg lohnt sich die Munition nicht. Ähnliches ist mir auf meiner langen Reise durch Asien auch schon passiert – Hoi An war auch eine blühende Hafenstadt, bis der Fluss versandete. Brügge kennt das. Wir besuchen die Liebfrauenkirche, und wandern etwas ziellos durch Brügge. Am Ende machen wir die faule Tour. Eine halbe Stunde in einem Touristenboot durch die Kanäle von Brügge (schon wieder ein Venedig des Nordens), und dann noch ein paar Spezialitäten (immer mit Fritten, dafür sind die Belgier berühmt) gefuttert. Dann machen wir uns auf den Weg zurück nach Oostende mit dem Zug, Saskia und Niki fahren in ihrem Mazda Cabrio. So ganz richtig ist das Wetter nicht dafür, im Hafen regnet es, und unsere Besucher können sich so von dem Komfort unseres Salons überzeugen. Etwas Kaffee für die Autofahrer (ach ne, Niki hat ja noch keinen Führerschein), Bier für Frank und mich. Als sich die beiden zurück auf den Weg nach Brüssel machen (dort haben sie ihre Unterkunft) machen wir ein Nickerchen – schließlich sind wir im Urlaub. Für den nächsten Tag wollen wir alle vier Antwerpen besuchen.

Nachdem erhebliche Nebenwirkungen von der Impfung ausblieben (müde sind wir immer), sind wir weiter nach Dünkirchen gefahren. Den großen Fährhafen von Calais lassen wir dabei aus, aber auch Dunquerque ist eine echte Hafenstadt. Die Marina liegt im ersten großen Becken links, direkt neben dem Museum über „Dunkirk 1940“. Über diverse Apps haben wir mittlerweile mitbekommen: Teile von Frankreich sind für die Belgier ein Risikogebiet, wären wir dort gewesen, hätten wir einen Covid-Test gebraucht. Auf alle Fälle müssen wir in einem Personal Locator Form (PLF) angeben, wo wir die letzten zwei Wochen waren. Wir beschließen, die Normandie zu verheimlichen (Risiko!), aber geben an, in Paris gewesen zu sein. Nach einiger Zeit bekommen wir eine SMS – wir müssen in Belgien sofort einen Test machen, und in Quarantäne gehen bis wir ein negatives Resultat haben. Unser Verhängnis: die Île de France ist ein Risikogebiet, und darin liegt Paris – hab ich übersehen. Wir disponieren um. Wir bleiben einen Tag länger in Dünkirchen, und lassen uns dort testen. Am nächsten Mittag bekommen wir das Ergebnis, und dürfen damit auch wieder in ein Restaurant (der vorherige Pass Sanitaire war am frühen Abend des Vortags abgelaufen). Im Restaurant ruft uns die belgische Gesundheitsbehörde an, wollen wissen, dass wir uns auch brav haben testen lassen, und bis dahin niemanden sehen. Den PLF kann man leider nicht zurückziehen oder ändern. Also erklären wir den Sachverhalt, alles kein Problem. Nieuwpoort ist nicht weit entfernt, es reicht, dass wir um 14:00 losfahren.

Nieuwpoort ist der Heimathafen von der Zara von Louise und Patrick, mit denen wir weiterhin per Whatsapp in Kontakt sind – klar, dass wir da mal vorbeischauen. Kurz vor dem Hafen bekommen wir einen kleinen Schreck: wir werden angefunkt, obwohl wir nichts falsch machen. Die Zara macht auch gerade einen Ausflug, Patrick hat uns erkannt. Wir reservieren einen Platz in deren Marina, bekommen einen Platz drei Boote weiter. Kurzes gemeinsames Einkaufen (die beiden haben ja ein Auto vor Ort), und dann kochen und trinken und ratschen wir auf deren Boot bis ein Uhr morgens. Sie haben uns auch empfohlen, in Oostende zu bleiben, besser als Zeebrügge. Und so sagen wir am nächsten Tag Adieu (nächstes Treffen in München), und fahren zwei Stunden die Küste weiter. Der Plan hier: Belgien per Zug, danach weiter in die Niederlande.

Der Zug nach Antwerpen braucht zwar 1:40, aber wir konnten es mit ein paar Sachen geschickt kombinieren. So sehen auch die Niederländer ihren südlichen Nachbarn seit sechs Tagen als Risiko, wir brauchen wieder einen PCR Test, nochmal 50€. Was bin ich froh, wenn ich meine 14 Tage Wartezeit nach der Impfung durch hab. Anyway, in Antwerpen am Hauptbahnhof gibt es ein Testzentrum, und das besuchen wir nach der Ankunft. Wieder treffen wir Saskia und Niki, wieder gibt’s erst einmal ein Kaffeetscherl. Antwerpen ist total verregnet, so einigen wir uns auf zwei Museen, und machen uns auf die Socken. Das P.P.Rubens Museum hat erst in ein paar Stunden einen Besuchs-slot für uns, deshalb kommt als erstes das Druckerei-Museum „Plantin-Moretus-Museum“ – auch Weltkulturerbe. Über sieben Generationen hat die Familie am Vrijdagmarkt ab 1555 eine Druckerei betrieben, und damit ordentlich Geld verdient, das Museum ist Wohnhaus einer wohlhabenden Patrizierfamilie und Industriebetrieb gewesen, und bietet somit Einblick in die feine Gesellschaft und frühe Technik. Insgesamt ist das Museum gut gemacht – jeder bekommt ein geliehenes Büchlein, in dem jeder Raum und seine Exponate anschaulich erklärt sind. Dann noch ein paar Multimedia Bildschirme, und einige ‚hands-on‘ Exponate die ohne Corona wahrscheinlich auch zu bedienen wären. Danach eilen wir durch den unveränderten Nieselregen zu einem Restaurant um die Ecke vom Rubens-Museum, und wieder ein paar Spezialitäten (nein, keine Moules frites – an denen haben wir uns in Frankreich wohl für einige Zeit satt gegessen). Dann, pünktlich um 15:30 treten wir unsere Tour des nächsten Museums an. Rubens war nicht nur Maler, sondern auch Sammler, und der hat halt nicht sein eigenes Zeug gesammelt (tatsächlich waren die meisten der frühen Portraits im Plantin-Moretus-Museum von Rubens). Auch dieses Museum recht gut gemacht, und ein paar Neuigkeiten habe ich auch gelernt: Bei manchen Gemälden kooperierten zwei Maler (Bauern auf dem Weg zum Markt); der eine malte besser Menschen, der andere Gemüse. Auch neu war mir, dass Rubens diverse Schüler hatte, die Bilder für ihn vorgemalt haben. Rubens vollendete sie dann – ‚das besondere Funkeln in ihren Augen‘, und danach war es ein echter Rubens, und wurde auch so abgerechnet.

Nach dem Museum verabschieden wir uns, und wir machen uns auf den Weg nach Oostende zurück. Vom Preis-Leistungsverhältnis der belgischen Küche sind wir bislang nicht so überzeugt, heute wird’s indisches Take-away.

Von der Macht des Mondes – Tidengewässer

Bei meinen bisherigen Segelreisen spielten Ebbe und Flut keine große Rolle. Weder im Mittelmeer noch in der Ostsee überhaupt spürbar; in anderen Bereichen zwar spürbar, aber nicht sooo relevant; und die eine Reise über die Nordsee, da haben wir uns hauptsächlich damit beholfen, den Hafenmeister nach dem geeignetem Zeitpunkt zum Auslaufen zu fragen.

Kurz zur Theorie: Ebbe und Flut werden hauptsächlich durch die Anziehungskraft des Mondes erzeugt. Bildlich zupft der Mond das Wasser an der Stelle der Erde, wo er gerade steht, nach oben (Flut), auf der anderen Seite müsste dann das Wasser fehlen (Ebbe). Fast. Tatsächlich tanzen Erde und Mond um einen gemeinsamen Mittelpunkt (der nur in der Nähe des Erdmittelpunkts ist), an der mondabgewandten Seite treibt es das Wasser mit der Zentrifugalkraft auch aus (ebenso Flut). Dadurch ergibt sich ein Zyklus von ungefähr 24 Stunden und 49 Minuten, und in der Zeit hat es zweimal Hoch- und Niedrigwasser. Dann gibt es aber noch die Sonne. Stehen Sonne, Erde und Mond in einer Linie (bei Vollmond oder Neumond), dann fallen Ebbe und Flut heftiger aus (Springtiden), bei Halbmond weniger (Nipptiden). Übers Jahr hinweg gibt es dann noch besonders krasse Springtiden, weil die Umlaufbahnen etwas elliptisch sind – ach wisst Ihr was, guckt doch einfach auf Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Gezeiten

Eigentlich begann es in der Straße von Gibraltar. Der Atlantik ist groß genug, dass das Wasser hin- und herschwappen kann, und manchmal will es halt ins Mittelmeer, und dann wieder raus. Der Revierführer gibt Auskunft, wann die beste Zeit für welche Richtung ist. Schon in Cadiz, der erste Hafen im Atlantik waren die Anlegemöglichkeiten plötzlich ganz anders. Nicht mehr an einen festen Betonsteg, sondern Schwimmstege mit Fingern in einem großen Becken. In dem Becken sind große Stempen in den Boden gerammt, die Stege steigen und senken sich mit der Flut, vom Schwimmsteg kommt man mit einem beweglichen Steg an festes Land. Das Boot ist in dem Winkel zwischen Hauptsteg und Finger zumindest von zwei Seiten fixiert, das reicht. In Cadiz waren der Unterschied zwischen Spring-Hochwasser und Spring-Niedrigwasser (ca. 6 Stunden) ungefähr 2,5 Meter. Häßlich, wenn man sein Schiff bei Hochwasser fest an einer Beton-Hafenmauer angebunden hätte, aber insgesamt noch recht moderat.

Im Ärmelkanal wird es etwas krasser: insgesamt eher flach, und wenn hier das Wasser bei Ebbe mal schnell versucht, einen Meter im Atlantik zu ersetzen, dann wirkt sich das stärker aus. In St. Malo (wo wir am 2. August waren), hat es Tidenhübe von bis zu 12 Metern. Um also unser Boot mit 2,1m Tiefgang zu beherbergen, muss das Hafenbecken und die gesamte Zufahrt also bei Flut fast 15m tief sein – das hat sich nicht überall gelohnt, besonders nicht für Sportboote. Viele Häfen behelfen sich also mit Tricks: Es gibt Tore, die nur bei genügend hohem Wasser geöffnet sind. Es gibt Schwellen, wo das Hafenbecken bei Ebbe genau das ist: Ein Becken, und außerhalb ist trockenfallender Watt. Es gibt auch trockenfallende Häfen, wo das Schiff bei Ebbe halt einfach im Schlamm liegt, aber das trauen wir uns noch nicht. Auch die ‚Mittellinie‘ der Häfen ist unterschiedlich. Es gibt manche Häfen, da steigt bei Nipp-Hochwasser das Wasser für einige Tage im Monat nie genug, dass man überhaupt rein- oder rauskommt, andere sind nur bei Spring-Niedrigwasser nicht erreichbar. Neben den Wasserhöhen entstehen natürlich auch signifikante Strömungen – wenn sich 12m Wasser aus der Bucht von St. Malo verdrücken, gibt es ordentlich Strömung in dem häufig ungefähr 30 Meter tiefen Meer.

Seekarten (und unserem Kartenplotter) sind übrigens in der Regel auf ‚mittleres Spring-Niedrigwasser‘ bezogen, man kann also in den meisten Fällen davon ausgehen, dass mindestens so viel Wassertiefe an einem bestimmten Ort sind. Bereiche, die immer über Wasser sind, werden gelb-orange gekennzeichnet, trockenfallende Bereiche ein sumpfiges grün, sehr flaches Wasser dunkelblau, zwischen 5 und 10 m tiefes Wasser hellblau, und immertiefes Wasser ist einfach nur weiß. Erst nach einer Woche in der Bretagne stellen wir übrigens fest, dass unser Kartenplotter Tiden und Strömungen berechnen kann, und sie sogar animiert auf der Karte darstellen kann.

Wie wirkt sich das praktisch auf unsere Segelei aus?

  • Bei Niedrigwasser ist der Übergang vom Schwimmsteg zu ‚terra firma‘ manchmal recht steil, aber hallo.
  • Aus unserer Mittelmeer-Erfahrung ist alles, was auf der Seekarte nicht weiß ist, potenziell gefährlich. Dass bei Hochwasser auch der hellblaue Bereich noch locker 15 Meter Wassertiefe hat, also völlig unkritisch ist, kommt nicht sofort ins Bewusstsein. Und dass es Zeiten gibt, wo man auch über die sumpfgrünen Flächen segeln könnte – das ist spontan völlig gegen meine Ausbildung. In der Praxis fährt man also einen Umweg um die Stelle, während ein Pulk von Segelbooten einfach die ‚Abkürzung‘ nimmt.
  • Bestimmte Häfen kann man nur zu bestimmten Zeiten (vor und nach Hochwasser anlaufen). Praktisch kann das Fenster recht groß sein, aber noch fehlt uns die Routine, entspannt auszurechnen, dass dieser Hafen auch bei Nipp-Niedrigwasser noch tief genug ist. Zur Sicherheit denkt man: nur bei Hochwasser anlaufen (oder auslaufen), und das ist halt zweimal am Tag. Also zB entweder um drei Uhr morgens oder 15:25. Das schränkt die Planung ein. Es gibt auch noch genügen 24-Stunden Häfen an der Küste, zur Sicherheit nimmt man die lieber.
  • Die Strömung kann ganz erheblich sein, besonders an markanten Kaps oder ähnlichem. Auf dem Weg nach Cherbourg stellen wir irgendwann fest, dass wir eine Gegenströmung mit 2,5 Knoten haben. Wenn dann noch nur milder Wind ist, segelt man was geht, nur um nicht rückwärts zu fahren. Die Strömungen machen auch unsere Planungen kaputt. Die Faustformel ‚5 Seemeilen in der Stunde‘, die uns im Mittelmeer immer gut gedient hat, funktioniert einfach nicht. Und manche Strecken sind so lang, dass man sie nicht sinnvoll abpassen kann, denn innerhalb eines 12-Stunden Fensters hat man sowohl volle Strömung gegenan, als auch volle Strömung von hinten (dann allerdings freut man sich – bei lauem Wind trotzdem 8 Knoten über Grund – geil!). Und in der Kombination mit Hafenöffnungszeiten wird’s nochmal schwieriger: Also – wir müssen um 11:00 in St. Malo auslaufen, um über die Schwelle aus dem Hafen zu kommen, haben dann aber erstmal sechs Stunden Strömung von vorne – blöd.

Aber langsam werden wir besser, und nebenbei besprechen wir unsere Pläne auch gerne mal mit anderen Seglern im Hafen, die da mehr Erfahrung haben. Die Herdenerfahrung führt dann aber auch dazu, dass zB um 11:00 +/- 30 Minuten fast die Hälfte der Boote den Hafen verlässt, um in eine bestimmte Richtung zu fahren. Das ist dann wie ein Impromptu Regattastart, und leider ist die Seestern kein schnelles Schiff; frustrierend.