Noch 30cm nach Santorini

[Das ist der zweite Teil einer eher zusammenhängenden Woche. Lies hier den ersten Teil.]

Das Restaurant Syrtaki besticht durch seine Lage direkt am Hafen von Firá auf der Insel Thera, allgemein als Santorini bekannt. Am Donnerstagabend sitzen dort einige Passagiere der P&O Cruises und warten auf ihre Rückfahrt auf die Azura, die in der Kaldera des erloschenen Vulkans vor Anker liegt. Gelangweilt sehen sie dort immer wieder die Wassertaxis anlegen und Touristen, wie sie es auch sind, ein- und aussteigen. Doch heute ist etwas anders. Plötzlich taucht eine bildschöne Ketch auf, fährt schneidig auf die Hafenmauer zu, dreht kurz davor ab und stoppt auf. Ein drahtiger, braungebrannter kleiner Mann springt an Land und es wird ihm eine rosa Reisetasche gereicht. Er winkt noch einmal schnell, doch die Ketch mit dem Schriftzug „SEESTERN – Übersee“ am Heckspiegel hat schon abgedreht und fährt auf die untergehende Sonne zu. Neidisch folgen die Blicke der Touristen dem Mann und dem Boot. Gegen Ihr Massen-Touristen-Haltungs Kreuzfahrtschiff genießt der Mann offensichtlich einen echten Individualservice. Soweit die Outside-In Perspektive, aber die Erlebnisse und Gefühle der Touristen im Restaurant Syrtaki sollen auch nicht weiter mein Thema sein.

Santorini, das ist aus meiner Sicht das klassische Griechenland: Weiß getünchte Häuser mit blauen Dächern, ein Traumziel. Klar, dass wir da mal hinfahren müssen wenn unser Schiff schon in der Gegend liegt. Besonders für Frank, der in seiner Jugend schon einmal schnöde an Land gecampt hat, ist die Fahrt durch die Kaldera wohl eine Herzensangelegenheit. Denn tatsächlich ist die Insel für einen Besuch mit dem Segelboot eher unpraktisch. Es gibt keine vernünftige Marina, ein sicherer Hafen im Süden ist zu flach für unsere 2,10m Tiefgang. Ankerplätze sind selten und bei kräftigerem Wind ungemütlich; da hätten wohl Frank und ich nicht die Ruhe gehabt entspannt im Ort zu sitzen, während die Elemente versuchen, uns die Seestern abspenstig zu machen. Und der Wind ist kräftig – warum sind wir trotzdem hier? Die einfache Antwort: Um Udo zum Flughafen zu bringen. Die ganze Geschichte sieht so aus, und beginnt in diesem Post auf der Fahrt nach Milos:

Die Standard Zeiteinheit für einen Segelurlaub ist „die Woche“. In meinen 18 Jahren Charter-Segel-Erfahrung hatte ich nur zweimal eine Doppelwoche. „Die Woche“ beginnt am Samstagmittag mit Überprüfung und Proviantierung des Charter-Schiffes. Abgelegt wird selten am Samstagnachmittag, meist am Sonntagmorgen. „Die Woche“ endet am Freitagabend mit Volltanken, meist darf man bis Samstagmorgen auf dem Schiff übernachten. „Die Woche“ wird meist weit im Voraus gebucht, Frühbucherrabatt. Deshalb nehmen sich alle Mitfahrer auch die ganze Woche Zeit. Ach ja, und „die Woche“ kostet ca. € 2.000 an Chartergebühr. Seitdem wir die Seestern haben, hat sich das geändert. Wir zahlen keine Chartergebühr mehr, sondern – ach lassen wir das. Aber alles ist viel flexibler, deshalb sind wir erst am Sonntagabend angereist, und Udo muss am Samstagmittag wieder zuhause sein, damit er mit seiner Frau keinen Ärger bekommt. Also planten wir grob unsere Reise so, dass Udo von Santorini aus am Freitagabend zurückfliegt, und wir am Sonntag von Kreta aus. Frank und ich haben den Rückflug aber noch nicht gebucht. Auf Milos wollen wir das nun endlich tun.

Mit der aufkommenden Morgendämmerung steuere ich auf die Insel zu. Mit Beginn meiner Wache haben wir das Vorsegel gesetzt, doch damit gewinnen wir nicht genug Höhe in Richtung auf die Nordseite der Insel. Der Wind frischt auf, und wir setzen das Großsegel im zweiten Reff. Dazu muss das Vorsegel kurz weggerollt werden, es wehrt sich aber, und am Ende flattert ein Teil des UV-Schutzes am Achterliek. Da wird sich der Segelmacher in Kalamata freuen. Insgesamt ist an dem Morgen segeltechnisch irgendwie der Wurm drin, wir segeln also an die Westküste, rollen dann die Segel weg und stampfen dann noch zwei Stunden unter Motor gegen Wind und Welle bis wir mittags in Milos Bay im Hafen von Adamantas anlegen. Heute ist Mittwoch, und wir wollten am Donnerstag in einer Bucht auf Ios übernachten, dann am Freitag entspannt nach Santorini und weiter nach Kreta. Doch Sorgen macht uns die Windprognose. In der Ägäis weht im Sommer der Meltemi, und der kann auch mal heftiger werden. Für den Freitag ist auf der Windfinder-App die Gegend um Santorini dunkelrot eingefärbt: 35-40 Knoten. Auch Donnerstag sieht es nicht mehr entspannt aus. Einige der Segler im Hafen buchen gleich bis Montag – und wir diskutieren Alternativen. Die sicherste Alternative wäre es wohl, nach Kalamata zurück zu huschen. Der Peleponnes hält den Meltemi ab, spätestens ab Kap Maleas wäre es wohl ruhig. Udo müsste dazu von Milos eine Fähre nach Santorini nehmen, und wir hätten gekniffen. Wir überlegen eine Alternative, am Donnerstagmorgen früh nach Santorini segeln, und dann gleich weiter nach Kreta, geplante Ankunft Freitagmorgen in Agios Nikolaos. Damit wären wir erst einmal vor dem heftigsten Wetter unterwegs. Gebongt. Wir trinken an der Hafenpromenade ein Ouzo, Frank bucht für uns ab Heraklion einen Flug.

Aufbruch Donnerstagmorgen kurz nach Sonnenaufgang. Mit extrem viel Respekt verlassen wir den Hafen. Schon am Abend und in der Nacht hat es ordentlich gepfiffen – im wahrsten Sinne des Wortes, alle Drahtseile am Steg haben gesungen. Es konnte sich also eine schöne Welle ungehindert aufbauen, und wenn wir jetzt aus der Bucht von Milos fahren, bekommen wir die erst auf die Nase und dann von der Seite. Den ersten Teil der Strecke, bis zu der Passage zwischen Milos und Kimolos, fahren wir unter Motor – das ist zwar schummeln, aber heute wollen wir keinen Blumentopf für Stil gewinnen, sondern unser Schiff sicher in den Hafen bringen. Nördlich von Milos sind die Wellen da. Dadurch dass der Auspuff (am Heck in der Nähe der Wasserlinie) manchmal frei von der Kuppe einer Welle tönen kann, im nächsten Moment aber wieder unter Wasser ist, ändert sich das Motorgeräusch ständig, aber die Seestern pflügt. Nach der Meeresenge setzen wir das Vorsegel – dürfte bei dem Wind locker reichen, und bei dem Geschaukel ist unsere Begeisterung, zum Großsegel setzen an den Mast zu gehen etwas eingeschränkt. Frank und ich, die ja auch die folgende Nacht durchfahren müssen, versuchen abwechselnd etwas zu schlafen, und Udo übernimmt häufig das Steuer. Ich tue mich schwer, Wellenhöhen abzuschätzen, aber ca. 1,5m-2m werden sie schon immer wieder haben. Der Wind weht mit ca. 25 Knoten (Windstärke 6, „starker Wind“), die stärkste Böe war bei über 35 Knoten, das ist dann schon stürmischer Wind. Eigentlich gar nicht mehr meine Komfortzone, aber die Seestern fährt klaglos; außer man möchte das Scheppern der Gläser und Teller im Küchenschrank als Klage verstehen. Teilweise sieht man die Welle von der Seite kommen, dann kann man noch versuchen mit ihr zu lenken, aber meist schaut man ja nach vorne um den Kurs zu halten – das ist anspruchsvoll genug, während die See am Ruder zerrt. Dann hebt einen die Welle an, das Schiff sackt in das Tal hinter der Krone, und beim darauf folgenden Anstieg legt sich die Seestern richtig auf die Seite. Auch im Cockpit tragen wir alle die Rettungsweste, und sind mit einer Lifeline gesichert, das vermittelt sicher ein Gefühl der Sicherheit, aber nach einiger Zeit gewöhnt man sich an die Bewegung des Schiffes; es macht Spaß. Whoo-hoo, Rodeo!

Langsam kommt Santorini in Sicht. Von weitem sehen die Inseln schneebedeckt aus, kommt man näher wirken die über der kargen Steilküste gelegenen Orte wie große Stücke Würfelzucker auf einem Kuchen. Am Nachmittag fahren wir in die Kaldera von Santorini ein. Wir wollen Udo in Firá absetzen, von der Hafenmauer dort geht eine Seilbahn in den Hauptort. Im Revierführer heißt es zwar „Yachts are not welcome here“, aber wir wollen ja nicht bleiben. Besonders im Kontrast zum offenen Meer hat es hier kaum Wellen, und auch der Wind scheint nachgelassen zu haben. In einem Gewusel von Wassertaxis und Ausflugsbooten fahren wir an den Kai, um es spannender zu machen frischt der Wind hier wieder auf. Auch die plätschernden 30cm Wellen nerven, da kann das Schiff ganz schön an der Hafenmauer rubbeln. Ca. dreißig Zentimeter vor Santorini drehe ich die Seestern ab und stoppe auf. Binnen Sekunden ist Udo an Land, Frank setzt einen Fuß an Land um uns etwas abzustoßen, und wir tuckern weiter. Das war also mein Erlebnis mit der Trauminsel: Sightseeing from the boat. Wir suchen uns noch an der Südseite eine windgeschützte Bucht, kleben unsere Backbord Positionsleuchte mit Panzerband wieder zusammen, und kochen uns einen Topf Nudeln – Stärkung für die Nacht.

  Wir haben uns mittlerweile für die Marina in Rethymno (um)entschieden, Kompasskurs 220°. Unser Vorsatz, dass einer steuert und der andere an Deck döst, lässt sich nicht umsetzen. Zu unruhig ist der Schlafplatz auf der Cockpitbank, und mindestens alle 20 Minuten kommt eine Welle über die Bordwand und duscht den Steuermann und den Rest des Cockpits. Auf dem Sofa im Bauch des Schiffes schläft es sich ruhiger und trockener. Zum Wecken erhält der Schläfer einen Bindfaden ums Handgelenk, das andere Ende hängt an der Steuersäule. So kann ich Frank wachzupfen, als ich später um 2:00 morgens erst einmal genug habe. Als Alternative gäbe es noch das Nebelhorn – eine Druckluftdose mit Hupe drauf, aus Fußballstadien bekannt. Das Gegenteil davon, sanft geweckt zu werden.

Auf diesem Teil der südlichen Ägäis ist nicht viel los. So beobachte ich erst auf dem AIS, dann mit Fernglas, dann mit bloßem Auge die E.R. Yokohama, die von Süden aus dem Suezkanal nach Piräus fährt. Das Containerschiff könnte wohl schneller fahren, aber offensichtlich möchte es erst nach Tagesanbruch ankommen. Kann ich verstehen – auch wir möchten nicht in einem unbekannten Hafen nachts anlegen. Am Ende fährt die E.R. Yokohama ca. 3Seemeilen vor unserem Bug vorbei. Ich überlege mir, wie es auf der Brücke des 300m langen Schiffs zugeht. Wie ‚wichtig‘ muss der Wachhabende sein? Hält er wirklich konzentriert Ausguck, oder hat er mal kurz realisiert, dass da ein langsames Segelschiff unterwegs ist, welches ihm nie gefährlich werden könnte? Lacht er sich einen Ast über den Amateur am Steuer, dessen Kurs durch Wellen und Unachtsamkeit zwischen 270° und 180° pendelt – ich gebe zu, dass nicht nur meine Gedanken schweifen, sondern auch die Richtung der Seestern. Auch ein paar Passagierschiffe sind unterwegs, auch diese scheinen langsamer zu fahren als notwendig, wahrscheinlich wollen sie ihren Gästen nicht zumuten, vor dem Aufwachen das Schiff verlassen zu müssen.

Um 6:00 zupft es auch an meinem Handgelenk – der Bindfaden war eine praktische Idee. Offensichtlich haben wir beide beschlossen, den ‚Envelope‘ bei der Wachlänge etwas zu ‚pushen‘; auf dem Atlantik möchte man ja auch nicht alle zwei Stunden einen Wachwechsel machen. Frank weist mich kurz ein: An Steuerbord eine Fähre, die wohl auch erst mit Tagesanbruch in Souda sein möchte. Direkt voraus die Lichter der Stadt, also von Rethymno. Von der vorhergesagten Abschwächung des Windes ist nichts zu spüren; die Wellen haben auch nicht abgenommen. Ab und zu wird die Seestern von einer besonders großen Welle erfasst. Ich schätze drei Meter in den extremsten Fällen, aber mei: wer will’s beweisen, wer will’s widerlegen – und je höher die Welle, umso größer der Held? Interessanterweise wird es in der aufkommenden Morgendämmerung schwieriger die Stadt zu erkennen. Die orangen Straßenleuchten heben sich nicht mehr so deutlich ab, alles wird etwas fahl. Dennoch, irgendwas erkennt man das „Venetian Fort, conspicuous“ aus dem Revierführer, man beginnt zu ahnen wo der Wellenbrecher des Hafen ist, und auch der Kartenplotter zählt langsam die Zeit runter. 15 Minuten vor Ankunft zupfe ich Frank wach, wir holen das Vorsegel ein, welches wir fast die ganze Nacht in voller Größe gefahren haben, und surfen auf einer Welle der Hafeneinfahrt entgegen. Selten erschien mir der Name Wellenbrecher so ausdruckstark, als wir in die Einfahrt einbiegen ist das Wasser plötzlich glatt. Wir wollen das ruhige Vorbecken des Hafens nutzen, um uns zu sammeln, und die Anlegevorbereitungen zu treffen. Ein Mitarbeiter des Hafens bedeutet uns, erst einmal an der großen, unbesetzten Hafenmauer anzulegen. Als wir festgemacht haben, fällt mir schon ein Stein vom Herzen, und wir gönnen uns um 9:30 das Bier auf welches wir zum Abendessen zuvor verzichtet haben. Hallo, Kreta.

Der Marinero – als er erfährt dass das Schiff hier für vier Wochen liegen soll – möchte uns baldmöglichst einen Platz in der Marina selber zuweisen. Wir parken also noch einmal um, und beschließen die Segelwoche. Ein paar Formalitäten, noch ein Bier für mich, und etwas Schlaf nachholen. Viel mehr werden wir auch im Laufe des Nachmittags nicht machen. Kaffee und Cocktails in der Stadt, das organisieren der Fahrt zum Flughafen am nächsten Morgen, die Seestern für einen Monat sichern, dann einen Spaziergang in der Altstadt und Abendessen. Uns fällt auf, dass die Stadt recht wackelig gebaut ist – alles schwankt.

Fazit: Das war keine Woche, um jemanden für’s Segeln zu begeistern, der nicht schon vorher ein Fan war. Drei Etappen, 337 Seemeilen von Montagmittag bis Freitagmorgen (Das ist mehr als doppelt so viel wie das übliche Pensum in einer „die Woche“), drei durchsegelte Nächte, und mehr Wind als ich sonst freiwillig gesucht hätte. Das alles nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig. Aber eine Super-Erfahrung. Nach den meisten Schilderungen haben wir auf der Überquerung des Atlantiks in westliche Richtung nicht mehr zu erwarten an Wind und Welle. Natürlich sind zwei Wochen durchgehender Schichtbetrieb eine andere Nummer, aber mit anderen Reisen (Griechenland – Sizilien) werden wir unsere Grenzen noch weiter testen. Sabbatical, here we come!

Nightwatch

Der Wecker klingelt um 3:55. Genauer gesagt, flucht Gerhard Polt über die coachende Mutter in „Longline“, aber das ist bei meinem Mobiltelefon eben der Weckton. Ich habe die Sonnenaufgangswache, muss jetzt ans Steuer, oder zumindest die Verantwortung für die Seestern übernehmen. Es sollte ruhig werden – als ich ins Bett gegangen bin, fuhren wir unter Motor über’s spiegelglatte Meer, und seitdem hat sich am Motorengeräusch nichts geändert. Ich habe auch schon einen Plan: wenn die beiden anderen schlafen, hole ich meinen Laptop an Deck und halte meine Eindrücke – quasi live – fest. Allerdings schaukelt das Schiff nun etwas mehr als um 22:00. Shorts, T-Shirt, Rettungsweste; bereit für die Wache gehe ich den Niedergang rauf ins Cockpit. Dort herrscht Anspannung: Frank starrt durch ein Fernglas nach hinten, und auch Udo dreht sich immer wieder um. Tatsache, da ist ein Frachter. Genauer gesagt sind dort drei Lichter zu sehen: zwei weiße und ein rotes, doch als erfahrener Seebär weiß man: Frachter mit über 50m Länge, dessen Backbordseite wir sehen. Er kommt näher, und das offensichtlich schon seit einiger Zeit. Der Mond ist untergegangen, es ist also stockfinster, und wir sind mittlerweile über 50km von jedem Land entfernt. Der Frachter kommt näher.

Eigentlich ist die Situation klar: Nach Regel 13 der international gültigen Kollisionsverhütungsregeln muss ein überholendes Fahrzeug dem anderen ausweichen, und ein Fahrzeug (Schiff) gilt nach der etwas sperrig formulierten Regel 13 b) dann als überholendes Fahrzeug, wenn es sich einem anderen aus einer Richtung von mehr all 22,5 Grad achterlicher als querab nähert und daher gegenüber dem zu überholenden Fahrzeug so steht, dass es bei Nacht nur dessen Hecklicht, aber keines der Seitenlichter sehen könnte. Also muss der Frachter uns ausweichen, und wir sind nach Regel 17 der KVR sogar verpflichtet, Kurs und Geschwindigkeit beizubehalten, damit der Ausweichpflichtige sich auf uns einstellen kann. Der Frachter kommt näher.

Die Abstände zwischen den drei Lichtern des Frachters werden größer und die Lichter selber immer heller. Man erkennt gegen die pechschwarze Nacht mittlerweile einen noch etwas dunkleren Fleck. Unser AIS piept auch hektisch: „Dangerous AIS Target“ teilt es uns mit. Der Frachter kommt näher. Neben der oben erwähnten Regel, die meist als „Überholer müssen sich frei halten“ abgekürzt wird, gibt es noch einen anderen Merkspruch, der in keinem Gesetzestext steht: „Stahl vor Plastik“. Wir lassen es nicht drauf ankommen, und fahren einen Kringel nach Backbord. Hoffentlich hat nicht im gleichen Moment der Frachter beschlossen, vorschriftsmäßig hinter unserem Heck vorbei zu fahren, denn dann hätten wir ihm jetzt ein Ei gelegt, wir wären wieder auf Kollisionskurs, und der Frachter wäre noch näher. Aber der Frachter fährt unbeeindruckt gerade weiter. Vielleicht wäre es nicht einmal eng geworden. Auch auf dem Frachter haben die AIS, und wahrscheinlich hat deren Navigator schon vor einer halben Stunde ausgerechnet, dass er knapp vor unserem Bug mit 100m Abstand vorbeifährt, auch wenn wir nichts getan hätten. Es kann natürlich auch sein, dass der Wachführer sich gerade einen Kaffee macht, oder auf seinem Laptop einen Blog schreibt. Ich tue mich wahnsinnig schwer bei so etwas Entfernungen zu schätzen, aber der schwarze Schiffsrumpf ist beim vorbeifahren beeindruckend groß, und man hört die Maschine und die Ablüfter deutlich. Die drei Lichter verschwinden (Sie scheinen nur nach vorne und 22,5 Grad achterlicher als querab), und wir sehen sein Hecklicht. Der Frachter fährt davon.

Doch wie kommt es, dass ich diese spannende Situation im südlichen Ägäischen Meer erleben durfte? Wir sind mal wieder eine Woche Segeln – Frank, Udo und ich. Wir folgen dabei einem Plan, genauer gesagt der ungefähr fünften Version davon. Auf http://torfprogramm.de/segeln/ habe ich ja mal einen Plan unserer Route eingestellt. Wir wollten im Frühjahr eine gemütliche Runde durch die Ägäis machen, um dann im Herbst über Sizilien, Malta, Tunesien und Sardinien in die Nähe von Genua zu segeln, um dort in Autoentfernung von München zu überwintern. Dann beschlossen wir, einen neuen Motor einzubauen, das Frühjahr haben wir mit Basteln verbracht, und auch die Zeiten, die Frank und ich uns aus dem Staub machen konnten waren nicht so üppig wie erhofft. So wurde erst Tunesien gestrichen, aus Genua wurde ‚irgendwo an der italienischen Westküste‘, Malta würde wahrscheinlich auch etwas viel werden, und vor ca. drei Woche war es der Plan, von Kalamata direkt nach Sizilien zu Segeln, ca. 72 Stunden am Stück. Wir konnten Udo – der mit uns über den Atlantik Segeln wird – überzeugen mitzukommen, und er hatte auch schon seinen Flug von Sizilien nach München gebucht. Dann kamen die ersten Antwortmails auf meine Preisanfragen für Marinas in Italien. Hust, Hust, wie bitte? Die Seestern wird in Griechenland überwintern. Für das gesparte Geld können wir oft nach Kalamata fliegen, und zumindest mir ist die Stadt irgendwie ans Herz gewachsen. Also vielleicht doch im Herbst noch zwei Wochen, Kalamata nach Kreta und wieder zurück, etwas Kykladen und Santorini Inklusive.

Wegen diverser Verpflichtungen sind wir erst am Sonntagabend nach Kalamata geflogen, noch schnell ein Bier und ab ins Bett. Am Morgen teilen wir uns auf, Frank und Udo gehen einkaufen und ich schlage mich mit ein paar Bootsthemen durch – aber um 13:15 sind wir bereit und legen ab. Ganz genau steht der Plan noch nicht – der erste Fixpunkt ist die Insel Milos in den Kykladen, doch diese ist 150 Seemeilen entfernt. Mit dem Segelboot rechnen wir dabei mit ca. 30 Stunden Fahrzeit. Doch was wäre ein guter Zwischenstop? Vielleicht Porto Kaio an der Spitze des Mittelfingers des Peleponnes? Wir versuchen es mal. Es hat durchaus Wind, nicht genug für Höchstgeschwindigkeiten, aber doch soviel, dass es eine Sünde wäre, den Motor anzuwerfen. Bald stellen wir fest – wir haben keine Möglichkeit, die Bucht noch im Hellen zu erreichen. Ich war da schon einmal, würde mich auch trauen da nachts zu ankern, aber kombiniert mit den Windprognosen wird da kein runder Plan draus. Nach einigem Diskutieren kommen wir zu dem Ergebnis, die eher windstiller vorhergesagte Nacht mit dem Motor durchzufahren, und am Morgen den auffrischenden Wind in der Ägäis zu nutzen, um einen Tag früher in Milos zu sein.

Nachts zu segeln ist an sich nicht gefährlich, doch eines denkt man sich sofort: Sollte hier jemand über Bord gehen, dann wird es sofort todernst, da man kaum eine Chance hat im dunklen einen Kopf zu finden der ab und zu zwischen den Wellen auftaucht. So machen wir es nachts zur Pflicht, eine Rettungsweste zu tragen, wenn man sich aus dem Rumpf des Schiffes traut. Dann hat der Kopf noch einen neongelben Schwimmkragen mit Reflektoren daneben, und viele Westen haben auch noch ein automatisches Blinklicht dabei. Wenn man das Cockpit verlässt, pickt man sich mit Safety-Lines an den vorhandenen Sorgleinen ein, und ist immer mit einem stabilen Gurt mit dem Schiff verbunden. Außerdem überlegt man, was man tun kann, um möglichst wenig an Deck herumzukrabbeln. Auf der Seestern wird das Großsegel am Mast gesetzt und gerefft (kleiner gemacht), fährt man also nur mit Vorsegel (welches sich komplett vom Cockpit aus setzen, bedienen, reffen und einholen lässt) reduziert man das Person-am-Deck-Risiko zum Preis schlechterer Performance am Wind. Das Großsegel haben wir mit dem letzten Tageslicht auf dem offenen Meer an Kap Tainaron geborgen – bei stark schaukelndem Schiff, im ruhigeren Wasser des Kolpos Lakonisos krabbelt Frank noch vor, um das backbord Navigationslicht mit Klebeband zu flicken.

Zu dritt teilen wir die Nacht von 22:00-7:00 in drei Schichten auf und bestimmen jeweils einen zum Wachführer, einen als Standby (kann im Cockpit schlafen, aber darf jederzeit geweckt werden, um mal zu helfen), und einer geht runter und schläft. Ich mache die erste Wache, Udo wird auf der Bank in der Plicht schlummern. Anfangs fahren wir bei halben Wind nur mit Vorsegel noch anständig, aber gegen elf schläft der Wind ein und ich werfe unseren neuen Dieselmotor an. Nachtwache bei ruhigem Meer und unter Motor ist hauptsächlich ein Kampf gegen Langeweile und die Gefahr des Einschlafens. Wir halten uns Anfangs noch nördlich der Route der großen Schiffe, denn eigentlich alles was aus Athen, Piräus, Istanbul, schwarzem Meer oder westlicher Türkei ins westliche Mittelmeer oder zurück will fährt die Route südlich der Kaps Maleas und Tainaron. Dabei spiele ich mit unserem neuen, an der Steuersäule angebrachten, Kartenplotter und dem AIS System.

Als ich segeln lernte, waren Papierkarten und terrestrische Navigation noch die wichtigsten Hilfsmittel, GPS teuer, ungenauer und primitiv – man hat eher die Position in Länge und Breite abgelesen, und dann in der Karte mit Bleistift markiert. Folglich war der Navigations-Tisch das Heiligtum des Schiffes, zB ein Getränk darauf abzustellen ein Sakrileg, denn Kaffee-durchweichte Seekarten wären ein echtes Risiko. Damals wurden die Anweisungen von unten an den Steuermann gegeben: „Fahre Kompasskurs 75°, Du müsstest dann neben der Landspitze eine Insel mit zwei Bergen sehen, an der kannst Du Dich orientieren.“ Der Steuermann führte aus, und gab evtl. Rückmeldung wie „Bei diesem Wind kann ich nicht auf 75° fahren, gib‘ mir eine Alternative.“ In dieser Tradition sind bei der Seestern noch alle wichtigen Elektronikgeräte hier versammelt, einschließlich des Raymarine 12″ Kartenplotters, also elektronische Seekarte und Routenplaner. Irgendwie nicht mehr zeitgemäß wenn ich mir modernere Schiffe ansehe, in unserer ersten Seestern Praxis sind wir  dann eher auf einen ipad ausgewichen, der in Schutzhülle an Deck liegt. Unser Kartenplotter war vor 10 Jahren top-modern und teuer, und nach Studium des Handbuches haben wir auf ebay ein zweites Gerät aus der Baureihe gekauft, welches sich mit dem ersten koppeln lässt, und dieses vor dem Steuerrad montiert. Was das Gerät schon kann, ist AIS (Automatic Identification System, ein System nach dem alle großen Schiffe (und kleinere freiwillig) in kurzen Abständen ihre Position, Geschwindigkeit, Kurs und andere Informationen in die Umgebung funken). Unser Gerät ‚hört‘ dem Funkverkehr zu, und stellt die anderen Schiffe als graue Dreiecke auf der elektronischen Karte dar. Errechnet das Gerät die Gefahr einer Kollision wird das Dreieck rot, und das Gerät fängt an zu piepsen [das kann übrigens auch sehr nerven, zB wenn man in einem Hafen manövriert, und auch nur kurz auf ein geparktes Schiff mit eingeschaltetem AIS zufährt; man ist dann ständig beschäftigt, das Gerät zum Schweigen zu bringen; alternativ schaltet man die Alarmfunktion aus, und vergisst sie am nächsten Tag wieder einzuschalten]. Doch in dieser Nacht hält es ein wenig wach. Wenn am Horizont ein Schiff auftaucht, geht man mit dem Cursor auf das entsprechende Dreieck und drückt auf den „Display full AIS Information“ Knopf. Das spuckt aus, dass es sich hierbei um die MSC Sinfonia handelt, welche mit 17 Knoten auf einem Kurs von 85° fährt. Weiter erfährt man, dass die MSC Sinfonia 275m lang, 29m breit ist, einen Tiefgang von 6,8m hat, und gerade auf dem Weg von Dubrovnik nach Mykonos unterwegs ist. Der Plotter errechnet, dass man in 43 Minuten und 27 Sekunden die geringste Annäherung von 3,5 Seemeilen hätte, wäre einem das zu knapp, könnte man sie mit der angezeigten MMSI: 356716000 und einem Funkgerät von Raymarine mit einem Knopf anfunken und sie bitten den Kurs zu ändern, schließlich sei man ein Segelboot und das motorbetriebene Kreuzfahrtschiff somit zum Ausweichen verpflichtet.

Leider hat mittlerweile der Wind so nachgelassen, dass ich das Vorsegel wegrolle und den Motor anwerfe. Damit sind wir in der Ausweich-Hackordnung der MSC Sinfonia gleichgestellt, welches bei anderen Schiffen die Nacht noch einmal spannend macht, denn… aktuell sind wir nördlich dieser ständigen Perlenkette an schnellen Schiffen, aber irgendwann müssen wir auf die andere Seite, denn wir wollen hinter Kap Maleas nicht nach Norden abbiegen. Leider ist keine Fußgängerampel weit und breit zu sehen. Ich warte eine Lücke zwischen den entgegenkommenden Schiffen ab, und setzte einen Kurs auf die Nordspitze der Insel Kythira. Wie geplant fährt die MSC Elbe entspannt vor unserem Bug vorbei, aber den Winkel zu der ihr folgenden MS Sukran III, ein Tanker unterwegs von Ceuta nach Piräus, habe ich falsch eingeschätzt. Erbost werde ich mit dem Suchscheinwerfer angeblinkt, und zusammen mit Frank (dessen Wache gerade angefangen hat, es ist 2:00) entscheiden wir uns für ein Ausweichmanöver. Selbstkritik: das sollte in Zukunft souveräner werden. Ich überlasse es Frank, den Rest der von mir eingebrockten Suppe auszulöffeln, und gehe ins Bett.

Ungefähr 10 Seemeilen östlich von Kap Maleas, es ist sowieso Zeit für meine Stand-by Wache, stirbt der Motor plötzlich mit einem hässlichen Husten ab. Erneute Startversuche quittiert er mit weiterem Husten, aber auch das wird weniger heftig – er springt nun einfach nicht an. Ein kurzer Check: Die Temperatur ist OK, Kühlwasser ist vorhanden und wird bei den Startversuchen auch gepumpt, und ein Ölmangel leidender Motor stirbt anders. Kein Treibstoff mehr? Kann eigentlich nicht sein. Praktischerweise liegt die neue Tankuhr säuberlich eingepackt im Schrank, der Anschluss und Einbau hatte noch nicht die höchste Priorität, dumm eigentlich. Wir haben ja vor ca 10 Segeltagen den Tank vollgemacht (dachten wir), und auch wenn ein Teil des Diesels wegen Verunreinigungen beim Tank sauber machen entsorgt wurde – kann das wirklich sein? Aber eine bessere Erklärung fällt uns nicht ein und beschließen, es erst einmal mit Tanken zu versuchen; als Segelboot können wir ja zur Tankstelle segeln. Wir diskutieren Alternativen und suchen im Revierführer nach Häfen in der Nähe. Unsere beste Chance scheint Kythira zu sein, 20 Seemeilen hinter uns, auch der Wind steht dafür günstig. Also wenden, Segel setzen, und auf mindestens vier Stunden Fahrt freuen – eher mehr, denn noch haben wir wenig Wind. Immerhin haben wir Glück – wir haben noch einen zweiten Tank unter dem Sofa, und da ist noch eine Pfütze Diesel drin. Ein Ventil geöffnet, und der Diesel fließt in den Haupttank. Nachdem der Motor etwas abgekühlt ist, entlüfte ich das Treibstoffsystem (zum Entlüften muss man an die andere Seite des Motors, das gibt leichte Verbrennungen am Bauch), und der Motor springt klaglos an. Das sollte reichen, um vor dem Hafen zu manövrieren, und anzulegen. Aber uns fehlt der Mut, den schwachen Wind damit zu kompensieren. Am Ende legen wir erst fast acht Stunden später in Agio Pelagia auf Kythira an. Frank hat mittlerweile geklärt, dass die Tankstelle auf der Insel den Hafen dort mit einem kleinen Tanklaster anliefert, sie können aber erst um 16:00 kommen. Ein paar Bierchen auf das überstandene Abenteuer, etwas Baden im glasklaren Wasser an der Mole (der Hafen war mal der Fährhafen, ist jetzt aber kaum genutzt), und dann noch ein gemütliches Abendessen im Dorf. Um 22:00 legen wir ab, und fahren bei spiegelglattem Meer der Insel Milos entgegen. Ich lege mich schlafen; meine Wache beginnt um vier.