Anny von Hamburg

Gleich bekommen wir Schimpfe. Wir stehen auf dem Fahrweg des Werftkrans zwischen diversem Eisenschrott, und wissen, dass wir dort eigentlich nicht sein dürfen. Ich noch dazu in FlipFlops, wo wahrscheinlich Helmpflicht herrscht, und Sicherheitsschuhe gefordert wären. Aber das äußere Trockendock ist nicht mehr trocken, sondern wird geflutet, schon spannend. Es springen diverse Leute umher, und einer kommt auf uns zu; wir bereiten uns schon auf Schelte und Gegenausrede vor. Aber der ältere Herr in T-Shirt und Shorts begrüßt uns freundlich, woher wir kommen? Er erzählt ein wenig von dem weißen Schiff im Trockendock, was nun langsam wieder anfängt zu schwimmen. Es stellt sich heraus, dass er Juha heißt, und der Eigentümer ist, und meint, dass zwei der Helfer auf dem Schiff auch aus Deutschland sind. Kommt mit! Wir laufen über das Schleusentor zwischen den beiden Docks auf die bewaldete Seite. Dort wurden die diversen Spanngurte gelöst, mit denen die Masten an den Bäumen befestigt waren. Der Kollege im weißen Hemd ist Till. Er stellt fest, dass das Schiff noch an einem Baustromverteiler hängt, wir dürfen es ausstecken und das Kabel rüberreichen. Juha erklärt, dass sie das Schiff auf die andere Seite des dann gefluteten Docks fahren werden, um noch ein paar Ausrüstungsteile an Bord zu bringen. Während wir uns noch fragen, wie sie den Dreimaster dort rüber bekommen wollen, machen die Helfer die Leinen los, und ein anderer Helfer zieht an der Wäscheleine, die sie über das Becken gespannt haben. Einer der treidelnden Helfer hat auch nur Crocs an, da fühle ich mich gar nicht so underdressed.

Juha hat uns noch angeboten, dass wir das Schiff ansehen; Till wird uns führen. Wir machen aus, dass wir später wiederkommen, wenn der Stress hier vorbei ist. Am Rande des Docks laufen ein paar rostige Wasserleitungen, an denen binden sie die Anny fest, die Vorleine wird an einer Geländerstütze festgemacht.

Die Anny von Hamburg ist nicht das einzige historische Schiff hier auf der Insel, aber es nähert sich seiner Vollendung. Am Nachmittag schauen wir tatsächlich vorbei, und Till und seine Freundin Nino zeigen uns das Schiff. In den ehemaligen Laderäumen sind 10 stattliche Kabinen, und auch der Salon lässt sich sehen (wird sich sehen lassen, wenn die diversen Kisten mit Werkzeug und Ersatzteilen weggeräumt sind). Till hat ein paar Semester Informatik studiert, aber bei gutem Wetter hat er keine Lust, am Rechner zu sitzen. Er ist auch in einem deutschen Verein zur Erhaltung eines historischen Schiffs aktiv, der „Windbraut zu Stade“, und wurde von Juha angeheuert, um sich bei der Anni um das Rigging zu kümmern. Juha erzählt, dass die Vorschriften in Finnland für den Umgang mit solchen Hobbies sehr entspannt sind, Till nickt zustimmend. Tatsächlich sieht man Sicherheitsvorschriften nicht so eng; Juha meint, es ist hier der ‚Wilde Westen‘.  Manches scheint sogar Till nicht ganz geheuer – auf die prekäre Situation mit den Festmachern angesprochen, meint er, dass aus seiner Sicht das Stromkabel auch gewertet werden müsse – es sei schließlich recht dick.

Wir laden Nino und Till noch auf ein Bier auf unser Schiff ein, aber sie können nicht zu lange bleiben – so much work to do.

Festungshaft in Helsinki

Unter Entsetzensschreien kippt der Mast um und fällt mit einem hohlen Aluminium-Scheppern auf das Nebenboot und rutscht dann halb ins Wasser. Eine blonde Finnin, die versucht hat, den Mast aufrecht zu halten, kämpft bis zum Schluss und wird dafür mit einem kühlen Bad im Hafen von Suomenlinna belohnt. Die Szene findet am ‚Ausrüstungspier‘ des Segelclubs gegenüber statt, sechs Leute helfen mit, da kann so einen Mast auch nur mit Muskelkraft stellen, oder? Offensichtlich nicht. Der Mast der kleinen Jolle ist zwar leicht genug, dass ihn zwei Leute tragen können, aber ihn auf einem wackeligen Boot aufzustellen, das ist wohl komplizierter. Im Ohr höre ich meinen Nachbarn Wastl: „Wenn es doch nur irgendein Gerät gäbe, was bei so etwas helfen könnte…“ Ihr ahnt es: das Gerät gibt es. An der Ausrüstungspier steht auch ein Mastkran (sieht aus wie eine sehr stabile freistehende Leiter, von der oben ein Drahtseil hängt, welches von unten mit einer quietschenden Winde gekurbelt werden kann). Offensichtlich ist der Mastkran nur für Weicheier, und diese Quietschen nervt. Während die Finnin ihren Pulli auswringt wird der Mast aus dem Wasser geborgen, die verschiedenen Leinen gerichtet, und er doch an den Mastkran gehängt. Hafenkino der anderen Art.

Mast stellen

Suomenlinna, das ist die Festung im Hafen von Helsinki und unser heutiger Schlafplatz. https://de.wikipedia.org/wiki/Suomenlinna . Den Tipp haben wir von Tero bekommen, den wir gestern im Hafen von Ingå bzw. Inkoo getroffen haben. Wir fragten den Helsinkianer Tero nach seiner Empfehlung für eine Marina in Helsinki, denn auf Google Maps finden sich mehrere. Suomenlinna ist eigentlich auf einigen vorgelagerten Inseln gebaut, theoretisch also unpraktisch für einen Bummel durch die Stadt, aber „eines der beliebtesten Ausflugziele der Stadt“, und nur mit dem Schiff zu erreichen (ja, auch mit den Fähren, die alle 15 Minuten fahren sollen). Wir räsonieren – wir werden noch öfters durch Helsinki kommen, auf dem Weg von/zum Flughafen – vielleicht ergibt sich da mal Zeit für etwas Sightseeing, und dann mit der Fähre zur Festung? Das macht doch auch keinen Sinn. Also endet die erste Hälfte unserer ersten finnischen Woche. Es ist Montagabend. Wie üblich kommt nun die Rückblende – wie kamen wir hierher?

Am Samstag kommen wir Abends in Jussarö an, es liegen ein paar anderen Schiffe im Hafen, aber wir haben viel Platz um längsseits an den Steg zu gehen. Der Hafen ist noch nicht betreut – Vorsaison. Wir fragen andere Gäste, wie das jetzt läuft – Man könne wohl etwas irgendwohin überweisen. Auf meiner Erkundung des Hafens sehe ich einige Hinweistafeln, die auf Finnisch und Schwedisch über irgendwas Auskunft geben. Englisch? Fehlanzeige. Aber ich sehe auch keine IBAN, keinen Eurobetrag. Stellt Euch an dieser Stelle ein Achselzucken vor. Jussarö ist eine kleine Insel, vor langen Jahren gab es hier ein Bergwerk, danach eine militärische Beobachtungsstation, heute ist die Hälfte Naturschutzgebiet und die andere Seite Naherholungsgebiet. Very nice. Im Bereich des Hafens stehen zwei verrostete, nicht angemeldete Autos, man erkennt, wo mit Beginn der Saison vielleicht ein Café und der Hafenmeister wohnen würde, und dann noch ein Plumpsklo im Wald. Es gibt Nudeln mit Pesto.

Am nächsten Tag wagen wir uns in den Schärengarten, wollen nach Barösund oder Ingå. Auf der Karte sieht der Schärengarten gefährlich aus – da wird die Navigation sicher total die Herausforderung. Puh. Es ist einfacher. Überall stehen Kardinalzeichen und Lateraltonnen, sie bezeichnen deutlich einige Fahrwasser durch die tausenden von Inseln und Felsen. Mit Wind von hinten fahren wir durch den Barösund.

Die. Schärenlandschaft. Ist. Traumhaft.

Gut, eigentlich sind es halt immer wieder steinige, bewaldete Inseln. Auf jedem steht mindestens ein Ferienhaus mit eigenem Anleger. Das ist weniger elitär als man meinen sollte – Straßen machen auf einer Insel mit einem Achtel Quadratkilometer halt keinen Sinn – man kommt also mit dem Boot zum Ferienhaus. Ein Geologe könnte den Barösund sicher erklären, irgendeine Falte in der Erdoberfläche, die nun eine relativ gerade und enge Trennung zwischen Inselbereichen bietet, überall tief genug für unser Schiff. Kurz überlegen wir, in dem Hafen von Barösund-City zu bleiben, aber Ingå bleibt interessanter. Wir suchen ja auch einen preiswerten Hafen, um die Seestern drei Wochen liegen zu lassen, und am besten mit vernünftiger Verkehrsanbindung zum Flughafen Helsinki. Ingå wäre da gar nicht falsch.

Der Hafen von Ingå ist laut Beschreibung 2,40m tief; „technical depth 3m“. Wahrscheinlich soll das bedeuten, dass er regelmäßig auf 3m ausgebaggert wird, um immer 2,40m zu gewährleisten. Wir tuckern in den Hafen – wo sollen wir nur anlegen? Bei der ersten Schleife benimmt sich die Seestern seltsam, reagiert nicht auf’s Steuer. Ein kurzer Blick auf den Tiefenmesser: 1,70m – OK, wir hängen im Schlick. Schnell Rückwärtsgang, wir kommen frei, und probieren es auf der anderen Seite vom Steg. Auch hier kommt die Seestern nicht ganz in die geplante Parkposition. Wieder zeigt der Tiefenmesser 1,70m. Auch egal – wir bleiben mit der Nase zwei Meter vom Steg entfernt, können über einen Finger an der Seite aussteigen. Von wegen 2,40m.

[kurz der technische Einschub: Die Seestern hat laut offiziellen Daten einen Tiefgang von 2,10m. Ob das mit allen Einbauten und mitgeführtem Bier auch stimmt? Gemessen wir das mit Ultraschall kurz vor dem Kiel, und in dem entsprechenden Instrument wird dann noch der Abstand vom Ultraschallgeber zur Wasseroberfläche eingerechnet. Eigentlich haben wir das mal versucht genau einzustellen, aber… Außerdem kann es natürlich bei Schlick oder zB Seegras sein, dass dieses den Ultraschall zurückwirft, aber man noch durchpflügen kann. Manchmal erschreckt uns auch ein Fisch, der unter dem Tiefenmesser durchschwimmt.]

Es ist schon 21:00, es findet sich kein Hafenmeister mehr. Auch hier – Hinweisschilder auf Finnisch und Schwedisch, das war’s. Wir fragen uns durch – das Café dort übernimmt aktuell das Kassieren der Gebühren. Es macht morgen um 10:00 wieder auf. Wir unterhalten uns mit unserem Nachbarn Tero – ihm haben sie 25€ für die Übernachtung abgeknöpft, der volle Preis obwohl wegen der Vorsaison weder Toiletten noch Duschen aufhaben. Wir planen den nächsten Tag. Wenn wir früh aufbrechen, dann schaffen wir es bis Helsinki. Echt schade, dass wir dann keine Hafengebühr zahlen können.

So brechen wir am Montag um neun auf, folgen einem Fahrwasser nach Helsinki, und das ganze unter Segel – zwar nur Leichtwindsegel, aber wir sind ja nicht auf der Flucht. Es geht durch unzählige Inseln. Erwähnte ich schon, dass mir die Schären gefallen? Um 16:00 legen wir in Suomenlinna an.

Wie Ihr mittlerweile sicher auf Wikipedia nachgelesen habt, wurde Suomenlinna im 18. Jahrhundert erstmals von den Schweden befestigt, die es natürlich nicht Suomenlinna (Finnen-Festung) nannten, sondern Sveaborg (Wer hat es erraten? Schwedenburg). Noch heute heißt die Anlage auf Schwedisch (2. Amtsprache in Finnland) Sveaborg. Also vollzieht sich mit der Übersetzung auch gleich ein Besitzerwechsel. Das finde ich total witzig, bis mir auffällt, dass es bei Südtirol eigentlich auch so ist. Bis 1973 wurde die Inselgruppe vorwiegend militärisch genutzt, jetzt hat es eine interessante Mischnutzung. Es wohnen dort einige Leute, es hat ein Gefängnis, viel Tourismus mit Läden und Museen, einem U-Boot und Raum für Kultur und Kulturpflege. Denkt dabei an den Kunstpark Ost – leerstehende Industriegebäude werden zB preiswert an Vereine zur Erhaltung von historischen Schiffen vergeben, die in den ehemalig militärischen Trockendocks liebevoll ihre Wracks pflegen. Dadurch gibt es auch Ecken, die eher an Schrottplatz erinnern. Es gefällt uns dort ganz gut, wir bleiben am Ende zwei Nächte, ohne jemals die Fähre nach Helsinki Downtown zu bemühen.

Goodbye Estonia, Hello Finland!

Der Wind bläst aus Ost-Nordost. Alle Segel sind gesetzt, und wir fahren nach Norden. Hinter uns schwindet Estland langsam am Horizont. Auf nach Finnland. Unser ursprünglicher Plan war es, von Kärdla nach Tallinn zu fahren, und von dort aus nach Helsinki überzusetzten, dabei hätten wir evtl. noch einen Gast an Bord gehabt. Gast kam nicht, Wind war ungünstig, also fällt Tallinn aus, und Helsinki machen wir irgendwie anders.

Aber vielleicht nochmal der Reihe nach. Mittwoch um acht kamen tatsächlich die Segel, Boris zieht unsere Wanten und Stage auf die richtige Spannung an, und ein Elektriker schließt die verschiedenen Kabel, die aus dem Mast kommen, an. Ich helfe beim Segelanschlagen mit, aber ich glaube ich werde eher geduldet, als dass man sich über die Hilfe freut. Kurz vor zehn ist das Schiff fertig, ein Kollege von ihm wäscht es noch kurz, und ich gehe in mein Remote-Office. Für Donnerstag ist am Vormittag etwas Arbeit mit Calls angesagt, und mittags miete ich mir ein Auto, um die Insel zu erkunden. Man ist wirklich entspannt hier. Die Anmietung besteht daraus, dass der Werkstattinhaber meinen Führerschein mit dem Handy fotografiert, mir 30€ in bar abnimmt, und auf einen Honda irgendwas auf dem Hof zeigt: „Schlüssel steckt“. Ich habe mich akribisch auf die Sightseeingtour vorbereitet: https://hiiumaa.ee/de/sehenswuerdigkeit/ , und mir zwei Leuchttürme ausgeguckt. Dabei kommt man etwas rum, und bekommt sicher ein Gefühl für die Insel. Das Gefühl, es erweist sich zwischen Entschleunigung und begrabenem Hund. Die Sehenswürdigkeiten Website hat recht: man kann „denken oder nicht denken – modern ausgedrückt – meditieren“. An der Nordwestspitze steht der Leuchtturm Tahkuna, 1871 von Russland auf der Weltausstellung in Paris gekauft, bestehend aus vorgefertigten gusseisernen Elementen. Auf dem Weg dorthin ein paar Bunker einer sowjetischen Küsten-Artilleriebatterie, die mittlerweile fast vollständig im Wald eingewachsen sind. Den Leuchtturm darf man für eine Gebühr von 4€ erklimmen, die Ticketverkäuferin ist eine klare Kandidatin für den ’stressigsten Job von Hiiumaa‘. Geschätzt alle 30 Minuten kommt einer oder mehrere Touristen, kaufen ein Ticket, und die Verkäuferin kann weiter mit ihrem Handy spielen. Ich erklimme den 42m hohen Turm, bin allein. Wahnsinnig viel zu sehen gibt es nicht. Auf einer Seite Meer, auf der anderen Wald. Dazwischen etwas Strand. Das war’s. Es gibt noch ein Denkmal für die „Kinder als Opfer der Estonia Katastrophe“. Dann fahre ich weiter, zum Leuchtturm Kõpu. Er steht auf dem höchsten Berg von Hiiumaa (68m), und ist architektonisch an eine Pyramide angelegt. Tatsächlich blickt der Turm auf eine fast 500-jährige Geschichte zurück, es ist der drittälteste Leuchtturm der Welt, der noch steht. Anfangs war es gar kein Leuchtturm, sondern nur ein Turm der als Landmarke diente. Da ich auf dem Weg dorthin nichts anderes als Wald gesehen habe, spare ich mir diesmal den Rundumblick und stromre einfach etwas darum umher. Ich fahre zurück nach Kärdla, und kaufe schon einmal 50 Liter Bier in Dosen. Danach zum Flughafen, Frank abholen. Frank fliegt ja auch mit Anonymous Airlines, hat eine Stunde Verspätung weil das blöde Flugzeug nicht anspringt, aber zwei Stunden später sitzen wir beim Griechen und trinken einen Ouzo.

Panorama vom Tahkuna Leuchtturm

Eigentlich wollen wir den Freitag ganz ruhig angehen lassen – wir haben ja Urlaub, und müssen nicht heute fahren. Wir organisieren von der Werft noch eine Putzkraft, die unser Schiff mal durchsaugt und wischt, und Frank fährt einkaufen. Aus Angst vor finnischen Bierpreisen bunkern wir hier in Estland nochmal ordentlich Bier, die Kassierin staunt nicht schlecht, als Frank mit dem dritten Einkaufswagen (sie waren aber auch wirklich klein) voller Bier durch die Kasse fährt. Beim Mittagessen prüfen wir nochmal die Windvorhersage – oh Schreck. Heute Nachmittag steht der Wind noch günstig, um ans estnische Festland zu fahren, morgen kommt der Wind eher aus Ost. Plötzlich werden wir hektisch. Zum Schiff fahren, Klappfahrrad einladen, Mietwagen tanken und abgeben, mit Klapprad wieder zum Schiff, Leinen los – die Reise beginnt. Etappenziel ist Dirhami – das dritte Mal für uns in diesem Hafen. Der Wind ist nicht besonders stark, deshalb kommen wir diesmal zu spät für das Fischrestaurant.

Am nächsten Morgen werfen wir den Plan mit Tallinn über den Haufen – der Wind ist echt ungünstig um nach Osten zu segeln, aber nach Finnland – dazu ist er ideal. Na gut, dann fahren wir eben an der finnischen Küste nach Helsinki, und danach wieder zurück. Von einer finnischen Yacht im Hafen lassen wir uns ein paar Tipps geben, was ein guter erster Hafen nach der Überfahrt wäre (Optionen, von West nach Ost: Hangö, Byxholmen und Jussarö), und los geht’s. Um 19:00 legen wir bei bestem Wetter in Jussarö an, Willkommen in Finnland.

Alles Amateure, die Profis

Marko ist unser Ansprechpartner für die Bootsüberwinterung. Man muss etwas wortklauberisch sein, dabei – man kann ihn wirklich ansprechen. Wieder und wieder. Manchmal antwortet er. Seltener, als man ihn anspricht. Vor dem Beginn der Saison hatten wir folgenden … Dialog: (? – Gibt’s dafür einen speziellen Begriff, zwischen Monolog und Dialog? So 1,5-a-log?). Wir wollten wissen, wie denn die Planungen wären, wann das Boot ins Wasser kommt, usw. Irgendwann hörten wir auf zu fragen; forderten: „Wir wollen am 18.5. vor Kärdla aus losfahren – please make it happen“. Die Antwort darauf: ein gelber Daumen hoch. Wunsch registriert, oder ‚Verlass Dich drauf‘ – wer will das schon so genau wissen? Irgendwann kam noch eine Nachricht „We will probably launch the boat on 15.05 {Mittwoch} and the masts the next day“. Der ursprüngliche Plan war es, am Donnerstag nach Estland zu fliegen, aber ich bin ja flexibel. Flug nach Tallinn am Montag, am Dienstag noch Zeit mit Unwägbarkeiten nach Kärdla zu kommen, am Mittwoch früh noch das Unterwasserschiff inspizieren und eine Opferanode anzubringen, und dann kann’s losgehen. (Opferanode – das gibt’s wirklich. Ein Klumpen preiswertes und elektrochemisch unedles Material ‚opfert‘ sich, dass es selber wegrostet und nicht der teure Messing-Propeller). Geplant, gebucht, mit dem Bus sollte ich sogar am Montag um 21:00 da sein – wenn alles klappt.

Montag früh mit Air Baltic nach Riga, weiter nach Tallinn. Alles pünktlich (is man ja nimmer gewohnt, von der Bahn). Am Flughafen in Tallinn schaue ich noch nach dem ’sagenumwobenen‘ Flug, der direkt nach Kärdla gehen soll. Google findet ihn nicht als regulärer Flug, und wenn man googelt, kommen ein paar Pressemeldungen, und eine Meldung, dass der Flug von Air Jamaica angeboten wird. Diese Pressemeldung spricht von 25€ für den Flug. Punkt. Ich versuche es am Ticketschalter im Flughafen: „But of course, sir. Yes, 25€. Yes, it leaves in 2 hours. Yes, there’s space for you.“ Ich lasse die 13€ Busfahrt verfallen und buche den Flug. Der Ticketagent meint noch, dass es nur 15kg Freigepäck hat, und meine zusätzlichen Kilos (Gepäck, nicht ich!) je 3€ kosten, aber davon weiß die Frau am Schalter nichts, oder es ist ihr wurscht. Wir fahren mit dem Bus an die hinterste Ecke des Flughafens, wo eine zweimotorige Turboprop Saab 340 auf uns wartet. Dem grundsätzlichen Hang zur Geheimniskrämerei folgend ist die Maschine weiß lackiert, und trägt kein Airline-Logo. Auf den ersten Blick sieht die Maschine etwas mitgenommen aus, auf den zweiten sogar ziemlich mitgenommen. Aber mei, eine Flugbegleitende und ein Pilotierender trauen der Maschine auch. Wir rollen zur Startbahn, die Motoren dröhnen, meine Uhr meint „Gefährliche Lautstärke erkannt – zu lange in dieser Umgebung kann Ihren Ohren schaden“. Aber 25 Minuten später landen meine 8 Mitpassagiere und ich auf dem Kärdla Metropolitan Airport. Als erfahrener Flugreisender halte ich Ausschau nach dem Baggage Claim, bis ich bemerke dass meine Tasche – und nur meine Tasche – auf kleinem Leiterwagen von der Ground-Handling Crew hinter mir zum gleichen Gebäude gefahren wird. Als ich anbiete, die Tasche selber zu nehmen, werde ich auf das Terminal-Gebäude verwiesen. Ordnung muss sein. Am Parkplatz steht ein Bus, der mich als einzigen Passagier für 2€ zum Hafen fährt. Unterwegs habe ich noch eine Unterkunft gebucht – als wir im September das Schiff hier abgaben, gab es ein paar schicke Bungalow-Container direkt am Hafen.

Im Hafen sieht’s dann anders aus. Die Bungalows sind offensichtlich für den Winter weiter nach Süden gezogen, und noch nicht wiedergekommen. Dafür sehe ich ein mir bekanntes Schiff im Hafen dümpeln. WTF? Noch während der Reise hatte mich ein Mail von Marko erreicht, ‚probably on Tuesday‘, und jetzt ist Montagabend, und die Seestern schwimmt. Damit hat sich der erste Grund für meine verfrühte Anreise erledigt.

Aber egal, erstmal Unterkunft finden. Im Hafengebäude gibt es ein Ferienwohnung, Zugang per Schlüsselkasten. Hm, 6290 hilft nicht. Vielleicht wo anders? Ich irre ein wenig um das Gelände, rufe schließlich beim Wirt (=Hafenmeister) an. Der PIN für den Schlüsselkasten? Ja klar, 2023. Ich Dummerchen, das hätte ich ahnen müssen, dass die PIN in der Mail nur zur Tarnung diente. Noch schnell etwas arbeiten (habe die frühere Abreise mit dem Versprechen erlangt, auch von Estland aus zu arbeiten), und dann ab in die Stadt. Auf dem Weg zu einem mir bekannten Lokal erkenne ich ein griechisches Lokal. Sieht zwar geschlossen aus, aber nein – die Türe lässt sich öffnen; „Kali Spera!“ Haben sogar griechisches Bier, passend zu unserem Schiff, bzw. dessen Kaufort. Weil der Wirt etwas bei meiner Bestellung verbaselt, bekomme ich noch ein Bier mit auf den Weg.

Am Dienstagmorgen schnappe ich mir die in Deutschland noch gekaufte Opferanode und gehe zur Werft. Dort drücke ich mein Überraschen über das schwimmende Schiff aus, und halte zur Untermauerung die Anode anklagend hoch. „Oh, don’t worry, the old was finished, so Boris installed a new one“. Den Wahrheitsgehalt zu überprüfen bräuchte jetzt einen Tauchgang in der eiskalten Ostsee – wird schon stimmen, doppelschwör. Ich frage auch nach dem fehlenden Niedergangschott (für Landratten: Haustür vom Schiff), und bekomme ein frisch geschliffenes Schott vorgelegt. Es ist unlackiert, weil ‚wir nicht Bescheid gesagt hätten, ob wir es lackiert, geölt, oder Natur haben wollen‘. Das ist halb richtig. Eigentlich hatten wir nur um ein ANGEBOT gebeten, was es denn kosten WÜRDE, unseren Cockpittisch und Niedergang etwas hübscher zu machen. Das Angebot kam nie, die Arbeiten sind jetzt halt ausgeführt. Welches mich zum Titel bringt. Die Arbeiter auf der Werft sind durchaus schnell, freundlich und wirken kompetent. Aber das ganze Management… Ein paar Beispiele:

  • Wir hatten letzten Sommer eine Grundberührung. Nichts tragisches, laut Werft „a few scratches“. Foto davon? Wie, traut Ihr uns nicht? Don’t worry.
  • Sollte man das gekratzte Antifouling dort ausbessern? Die Werft bietet ein völlig anderes Produkt, als unser teuer in Griechenland aufgebrachtes Coppercoat. Gibt’s in Estland kein Coppercoat? Keine Ahnung, was nun passiert ist.
  • Bitte Angebot für Motor-Service, Getriebeölwechsel. Ach, das haben wir schon gemacht.
  • Verhandlungen über ein neues Süllbord (Holzleiste unter der Reling) ziehen sich so lange hin, bis unsere Anfrage mit ‚dieses Jahr klappt es eh nicht mehr‘ beschieden wird.

Whatever, wenn wirklich alles getan wurde, was so für ein Boot getan werden muss (Opferanode, Ölwechsel), dann ist’s ja wohl auch OK. Bin gespannt auf die Rechnung. Ich frage Boris, wie es jetzt weiter geht. Er meint, um 15:00 kommt der Kran, der die Masten auf’s Schiff bringt, bis dahin könnte ich das Schiff von der Nordseite des Hafens bis zur Südpier bringen. Gut meine ich, gehe in meine FeWo, und arbeite noch etwas. Eine halbe Stunde später geht Boris zu unserem Schiff, Brumm, und parkt um. Ach, wisst Ihr was, macht doch einfach.

Mir kommt wieder in Sinn, was Frank (der evtl. von einem Freund zitiert) immer sagt: „Man hat das Gefühl, das viele der Leute, die im Umfeld der Hobby-Schifffahrt ihr Geld verdienen, es trotzdem eher als Hobby betreiben“. Da gibt es Gästehäfen, bei denen unsere Anfrage unbeachtet im SPAM verschwindet. Angebote scheinen eher was für Spießer zu sein. „Auf Lager“ bedeutet nicht, dass es bald versendet wird. Noch immer warten wir auf eine Rückmeldung von der Firma, die uns mit digitalen Karten versorgen will. Ein Trauerspiel.

Um 15:00 kommt tatsächlich der Kran, in 40 Minuten stehen beide Masten auf dem Schiff – noch nicht ausgerichtet und unter Spannung, aber drauf auf der Seestern. Noch während ich mein Handy einsammle, welches ein Zeitraffer-Video machen sollte, legt Boris mit der Seestern ab und fährt an einen anderen Steg. Ich komme mir richtig nützlich vor. Offensichtlich bekommt noch ein anderes Schiff seinen Mast, und der Kran scheint pro Stunde richtig teuer zu sein. Boris braucht immerhin zwei Anläufe, um die Seestern an den Steg zu bringen (Mit Backbord anlegen ist auch nicht die Schokoseite), und ich nehme ihm eine Leine ab. Sobald das Schiff so halbwegs am Steg liegt (ich habe die Leine noch in der Hand), meint er: „I’ll leave you to take care of the lines“, und eilt zum anderen Schiff. Puh, der Kran muss wirklich teuer sein. Morgen früh kommen die Segel, die richtige Spannung auf die Wanten, usw…

Frank konnte nicht vor Donnerstag fliegen; ich habe also drei Tage Vorsprung. Ich überlege, hier auf Hiiumaa ein Auto zu mieten, oder zumindest ein Fahrrad. Das Fahrrad kostet 20 € am Tag. Noch während ich überlege, fällt mir ein, dass wir ja ein Bordfahrrad haben, welches ich auch nach einem ersten Schreck in der Backskiste finde. Stimmt, da hatten wir ja ein Platz dafür gefunden, zuvor lag es immer am Fußende meiner Koje. Mit dem Rad fahre ich am Abend in die Stadt. Ja, Stadt. Kärdla (dt: Kertel) ist die größte und auch einzige Stadt auf der Insel Hiiumaa. Es gibt sogar ZWEI Supermärkte, in einem kaufen ich mir ein paar Getränke. Es werden auf Google auch immer wieder Restaurants angezeigt. Man geht dann dahin, und denkt sich: „Oh, heute geschlossen“. Stimmt aber nicht unbedingt. Hier müsste eine Kneipe sein. Sieht zu aus. Vielleicht da oben, im ersten Stock, von der Außentreppe aus? Ich glaub’s ja nicht, gehe mal hoch, wenn ich schon da bin. Tatsächlich. Hier ist ’ne Kneipe. Die hat auf. Gut, ist nur ein Gast drin, und der geht auch bald. Danach gibt es hier ein Personal zu Gast Verhältnis von 2:1. Vielleicht liegt es an meinem Nicht-Beherrschen der estnischen Sprache. Vielleicht bedeutet „SISSEPÄÄS II KORRUS“ ja: ‚Kommt rein, sieht zwar geschlossen aus, aber nein, hier steppt der Bär’*. To be fair, während ich sitze, werden noch zwei weitere Tische besetzt, wahrscheinlich von Leuten, die SISSEPÄÄS II KORRUS verstehen.

Ich radle heim, und schreibe diesen Blog auf meiner Terrasse mit Blick auf den Sonnenuntergang, ein Bild welches ich aber vor habe, als ‚Remote Office Working‘ zu verkaufen.

*Ich hab’s geprüft, das wäre „Tuleb sisse, tundub suletud, aga ei, karu tantsib siin“