Polen – Warschau und Krakau

Warschau wurde im zweiten Weltkrieg zu 90% zerstört. Die Deutschen haben hier auf unrühmlichste Weise ganze Arbeit geleistet. Am 1.8.1944 stand die Sowjetarmee vor den östlichen Toren der Stadt, und die polnische Untergrundarmee Armia Krajowa (AK) beschloss, das jetzt die Zeit gekommen war, sich gegen die Nazis zu erheben und das Ende des Krieges zu beschleunigen. So begann der Warschauer Aufstand. Aber den Polen wurde böse mitgespielt. Die Sowjetarmee hatte kein gesteigertes Interesse, den Polen zu helfen, denn sie teilten nicht deren Ideologie, und eine Stärkung des polnischen Selbstbewusstseins hätten deren Pläne für eine Nachkriegsordnung eher durchkreuzt. So hielten sie die AK hin, ließen sie quasi am ausgestreckten Arm verhungern. Die Deutschen waren natürlich erbost, dass sich jemand gegen sie erhebt, und sahen eine gute Begründung, die Reste der Polen auf dem Weg zum Endsieg endgültig zu vernichten. Nach Anfangserfolgen der AK wurde Stadtviertel nach Stadtviertel niedergekämpft und danach dem Erdboden gleich gemacht. Nach knappen zwei Monaten mussten die Polen kapitulieren, die Deutschen deportierten tausende in den Tod, und brannten dann noch weitere Teile der polnischen Kultur nieder, wie Kirchen und Büchereien.

So gesehen ist die Warschauer Altstadt nicht alt. Die Stare Miasto wurde in den fünfziger Jahren wieder aufgebaut, und zwar so authentisch, dass die Unesco die ‚Kopie‘ dennoch zum Weltkulturerbe deklarierte. Es wundert mich zwar ein wenig, dass die sozialistische Regierung während des kalten Krieges bei so etwas mitgespielt hat, schließlich gibt es ja genügend Beispiele, wo der Weg in die neue Gesellschaftsordnung auch gleich von entsprechender Architektur begleitet wurde. Selbst das Königsschloss wurde wieder aufgebaut, und viel reaktionärer geht ja eigentlich kaum. Alles wurde originalgetreu wieder aufgebaut, nach alten Fotos und sogar Gemälden von Canaletto, der 1764-1780 einige Stadtansichten gemalt hatte (wenn Ihr das jetzt nachschaut: es gibt zwei Canalettos, dieser hier ist Bernardo Bellotto, nicht sein Onkel Giovanni Antonio Canal). Das Ergebnis überzeugt, sowohl mich als Laien, als offensichtlich auch tausende andere Touristen. Ich treffe auf meiner Erkundung gefühlt hundert Schulklassen, alles wuselt. Besonders die Touristenspots sind auch aktuell saniert, nicht so wie das Gebäude meiner Ferienwohnung – das wurde auch nach dem Krieg wieder neu aufgebaut, hat aber seitdem einiges an Patina sammeln können. Von Doro habe ich einen Reiseführer geliehen bekommen, und somit habe ich keine Ausrede – ich weiß was ich zu sehen habe, und muss deshalb auch viele Kirchen ansehen. In einer wird das Herz von Chopin aufbewahrt, in die Fassade einer anderen ist eine deutsche Panzerkette eingelassen, hier eine Kirche in dessen Krypta während des Aufstandes ein Lazarett war – von den Deutschen gesprengt fanden hier 500-1000 Menschen den Tod, und in einer anderen wird an das Massaker von Katyn gedacht (das waren nicht die Deutschen, sondern die Sowjets) und an den Flugzeugabsturz von Smolensk, wo 2010 Lech Kaczyński starb (der polnische Patriot wittert hier eine Verschwörung, da Kacyński auf dem Weg zu einer Gedenkveranstaltung zu Katyn war).

Etwas was Europa verbindet – in Warschau hat es auch ein kleine Mehrjungfrau zu Ruhm und Ehre gebracht. Der Legende nach ist sie die Schwester der ungleich bekannteren Fischfrau in Kopenhafen, aber die hier ist halt woanders abgebogen, und die Weichsel hochgeschwommen. Ein böser Kaufmann hielt sie gefangen, wollte sie auf Jahrmärkten ausstellen, doch dann wurde sie von Fischern befreit. Aus Dankbarkeit beschützt sie nun die Fischer und alle Bürger Warschaus mit Schild und Speer, aber ohne Bikinioberteil, vor Unheil.

Per Uber fahre ich noch in ein Museum über den Warschauer Aufstand (didaktisch eher verwirrend). Der Warschauer Aufstand ist übrigens nicht zu verwechseln mit dem Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto, aber der findet in dem Museum nur als kleine Fußnote statt. Danach probiere ich noch die Metro aus, und fahre zum Kulturplast. Im 30. Stock gibt es seine Aussichtsplattform. Bei typisch polnischer Küche schmiede ich meine Pläne bis nach München fertig. Ich wollte mal Auschwitz selber sehen, welches zwischen Krakau und Katowice liegt – welche Stadt ist wohl die bessere Ausgangsbasis? Könnte mich das Internet auslachen, so hätte es das wohl bei der Klärung dieser Frage getan – Krakau ist wohl neben Prag und Budapest das beliebteste Tourismusziel im östlichen Europa.

Am nächsten Morgen in Wa-wa noch kurz eine Runde an der Weichsel spazieren, ein Kaffee am Marktplatz, noch ein paar Calls für die Arbeit, und dann breche ich zum Hauptbahnhof auf, kaufe eine Fahrkarte nach Krakau, und von Krakau eine zwei Tage später nach Berlin. Der Zug nach Krakau ist ICE-artig, und fährt in guten zwei Stunden ohne Zwischenhalt nach Süden.

Für Krakau habe ich keinen Reiseführer, sondern behelfe mich mit Wikivoyage. Die Stadt wurde im Krieg ausnahmsweise nicht zerstört, so hat sie eine authentisch erhaltene Altstadt, viel Kultur, und durch die ansässige Universität auch viel quirliges Leben. Mein Hotel ist verkehrsgünstig neben den Fernbahngleisen zum Hauptbahnhof gelegen, und auch an der dorthin führenden Straßenbahnlinie. Durch mein Eckzimmer habe ich einen guten Blick auf beide Verkehrsmittel. Ich streune ein wenig durch die Altstadt, über den großen Marktplatz mit den Tuchhallen in der Mitte, und in der innen sehr beeindruckenden Marienkirche. Am Freitag habe ich eine Tour nach Auschwitz und Birkenau gebucht.

Ich verliere darüber nicht zu viele Worte, aber sowohl das Gelände selber als auch die Ausstellungen sind recht steril, und vermitteln wenig Beklemmung. Man vergegenwärtigt sich zwar immer wieder, dass hier ca. eineinhalb Millionen Menschen ermordet worden sind, aber die Dokumentationen auf Phönix sind bedrückender. Es ist kompliziert. Da sprechen wir lieber mal drüber.

Auf der Rückfahrt fällt mir auf, dass ich den Insider Tipp der Wavel-Burg nicht mitbekommen habe, und nun geht mir die Zeit aus. Vielleicht mal wieder nach Krakau – war eine sehr schöne Stadt.

Am Samstag geht es weiter nach Berlin. Sieben Stunden im EC sind angesagt. Ein etwas älterer Zug, noch mit Abteilwagen, und proppevoll. Immer wieder hält der Zug an Städten an, die mir nichts sagen. Es scheint auch, dass da alle weg wollen, und niemand hin. Jedenfalls steigen immer mehr Leute ein, und fast niemand aus. Erst in Wroclaw ändert sich das. Fast zwei Drittel der Passagiere steigen aus, und ab da wird’s gemütlich. Man merkt dabei übrigens, wie groß Europa ist – der Zug macht vernünftig Tempo, fährt häufig 160 km/h, aber es sind halt doch 700 km. Samstag Abend noch ein gemütlicher Abend mit Freunden in Berlin, und jetzt sitze ich im ICE, kurz vor München. So geht der Urlaub zu Ende –  endlich mal etwas mehr von Osteuropa kennengelernt.

Questing in Warszawa

Für die Nicht-Nerds: Quests sind in Rollenspielen Aufgaben, die die Spielnarrative voran bringen – Gehe hin, töte die feuerspeiende Prinzessin und befreie den jungfräulichen Drachen. Häufig müssen dabei aufwändige Rätsel gelöst werden, bis man endlich die Truhe geöffnet hat, in der das für die obige Aufgabe notwendige magische Schwert liegt. Daran erinnert mich die Willkommensmail meiner Unterkunft:

„Please note that I have left the key for you in a safe box, instructions as follows. Your adress is Mariensztat 9 flat 8. The entrance is from street side . There are 3 doors in the building MARIENSZTAT 9 . Yours door is the first one. Flats 1-11. To open building door use an intercom pad by the door. press the [1][0][0] buttons followed by the [picture of the key] then enter [4][2][0][8]. If anything goes wrong press button [KAS] and start from beginning. When you hear a sound push the door. Find apartment 8 on the second floor . Then open safe box on flat’s door using numbers 4381. To open the box, pull the flap slightly. The key is inside the box. The black-silver one opens the lock.“

Als Side-Quest kann die Suche nach dem Lichtschalter im Treppenhaus gelten.

Wie üblich habe ich mich nicht rechtzeitig um Unterkunft in Warschau gekümmert, ein paar Tage vorher hatte Google noch viel Freies angezeigt. Manchmal bekommt man überraschend günstige Last-Minute Angebote, denke ich mir. Heute nicht. Das Internet im Zug funktioniert in Polen ähnlich zuverlässig wie in Deutschland, und meine Nachbarin nimmt an meinem Problemen Anteil – das wäre ein gutes Stadtviertel; nee das ist wirklich übertrieben. Am Ende scheint die Wahl auf die Hiltonklasse für 200€ die Nacht oder eine der vielen Privatunterkünfte hinauszulaufen. Jaja, meint Karolina, viele Leute brauchen das Geld. Dabei brauche ich eigentlich keine ‚gesamte Ferienwohnung‘. Ich buche die Stone Steps direkt in der Altstadt. Nach kurzer Zeit ein aufgeregter Anruf – so sorry, es gab ein Fehler, die Unterkunft wäre gar nicht verfügbar, es wäre sooooo nett von mir, wenn ich die Buchung stornieren würde, denn sonst – o graus – würden sie im booking.com Ranking sinken. Sooooo Sorry! Na gut, ich warte auf das nächste stabile Netz, der Zug macht dazu im Bahnhof von Białystok extra eine ungeplante zwanzigminütige Pause, und ich buche das „2 Swans“. Karolina empfiehlt noch, Uber zu verwenden; stimmt, das habe ich ja eigentlich in Brasilien schätzen gelernt.

Als mich der Fahrer in der Uliza Mariensztat absetzt muss ich mich erstmal orientieren. Am Ende ist es tatsächlich das lange Gebäude mit abblätterndem Putz. Das kann ja heiter werden. Ich setze die Quest von oben um, und lande in einer sauberen, modernen Zwei-Zimmer-Wohnung. Gut, dass man aus dem Fenster raus schaut, da sieht man die Fassade nicht. Es ist mittlerweile nach 21:00, aber ich finde noch ein bis 23:00 geöffnetes Lokal in der Nähe. Der Weg dorthin bei Nacht etwas abenteuerlich, durch Hinterhöfe, Garageneinfahrten, dann eine Treppe hoch. Ich stehe auf einer der Straßen die – so werde ich es morgen lesen – die Königsfahrt ausmachen, finde das authentische polnische Restaurant, welches mir gebratene Piroggen serviert. Ein Bier haben sie auch. Alles wieder gut.

Aa-choo

„Aa-choo“, meint die Rezeptionistin des Magnus Hotel in Kaunas. Ich bin geneigt, ihr Gesundheit zu wünschen, aber eigentlich sah es gar nicht nach nießen aus. Wie üblich in einem neuen Land habe ich nach dem geschäftlichen Teil danach gefragt, wie man hier Danke sagt, und sie meinte „aa-choo“. Ich bekomme es nicht aus meinem Kopf, das lautmalerische Comic-Nießen; die verarscht mich doch. In meinem Zimmer frage ich Google, „Danke“ heißt auf litauisch „Dėkoju“. Die Szene aus Monty Phyton’s Flying Circus kommt mir in den Sinn, mit dem falschen Sprachführer („könnten Sie mir bitte heftig den Popo streicheln?“ – „Ah ja, der Bahnhof ist da hinten, zweite Straße links“). Am nächsten Morgen probiere ich es beim Taxifahrer, auch er nießt als Antwort. Etwas später klärt es sich auf. Ein mehrsprachiges Schild in einer Kirche bedankt sich für die Spende mit „Ačiū“, obwohl ich gar nichts eingeworfen habe. So verarsche ich Litauen zurück.

Ich bin in Kaunas. Die erste Version der Törnplanung hätte uns ja die polnische Küste entlanggeführt, und wir hätten wahrscheinlich in Klaipėda Halt gemacht. Durch unsere Umplanung über Schweden haben wir aber Litauen ausgelassen, und das sehe ich gar nicht ein – da war ich noch nie! Wahrscheinlich ist auch so die ganze Idee mit dem Rückweg über Land gekommen; das etwas zu kurz gekommene Baltikum und Polen eben alternativ zu erleben. Die Verkehrsverbindungen hier oben sind etwas gewöhnungsbedürftig – es geht nicht jede Stunde ein Bus, und schon gar kein Zug. Tatsächlich wäre die Zugverbindung von Riga nach Kaunas oder Vilnius richtig abenteuerlich gewesen, und so nehme ich am Ende einen Flixbus, der ein paar Umwege fährt, und erst um ein Uhr morgens in Kaunas ankommt. Die späte Abfahrt ist dem geschuldet, dass ich versprochen hatte, von unterwegs auch etwas zu arbeiten, und so am Montagnachmittag ein paar Calls anstanden.

Kaunas, so lese ich irgendwo, war in 2022 Kulturhauptstadt, und ich lege hier einen kurzen Stop ein. Am frühen Nachmittag geht es weiter per Zug nach Warschau. So stehe ich für meine Verhältnisse früh auf, lasse mich mit dem Taxi in die Altstadt fahren, und gehe dann langsam zurück. Eine nette Stadt, aber hin- und weg ist anders. Kaunas liegt wie Klaipeda an der Memel, und den Fluss kennen wir aus dem verbotenen Teil unserer Nationalhymne. Bis hierhin ging also mal das Deutsche Reich (also bis zum anderen Flussufer, die Altstadt ist auf der Nicht-Reichs-Seite). An die Mischung von Vorkriegs-Alt, Sowjet-Ungepflegt und aufstrebend EU-Modern habe ich mich mittlerweile gewohnt, und die Sprache scheint ähnlich; die Situation bei Danke (das lettische Paldies vs. Ačiū) muss ich wohl als die regelbestätigende Ausnahme annehmen. Aber die Litauer scheinen sich weniger Gedanken zu machen. Hier steht fast alles nur auf Litauisch, man sieht kaum kyrillisch, aber auch wenig Englisch. Witzige Ausnahme: Das Taxameter und die Supermarktkasse, hier erkenne ich Russisch.

Zugfahrt nach Warszawa

Um 13:05 bin ich am Bahnhof, bereit für das Eisenbahnabenteuer. Ich werde enttäuscht: die Litauer setzen einen modernen Dieseltriebwagen ein, der bis kurz vor die polnische Grenze fährt, in Mockava müssen wir umsteigen; ein polnischer Intercity holt uns ab. In Litauen, wie im gesamten Baltikum wird noch auf russicher Breitspur mit 1520mm gefahren, auf der anderen Bahnsteigsseite in Mockava ist dann europäische Normalspur mit 1465mm. Es gibt zwar Pläne – ein hochpriorisiertes Projekt der EU – mit Rail Baltica eine Hochgeschwindigkeitsstrecke in Normalspur Wahrschau bis Tallin bzw. mit Tunnel nach Helsinki zu machen, aber außer Bauarbeiten am Rigaer Bahnhof sehe ich bislang wenig davon.

Riga und der sowjetische Hauch

Guck mal, eine Tankstelle! Allmählich gibt man sich auch mit kleineren Sehenswürdigkeiten zufrieden, wenn man aus dem Bus schaut. Wir fahren mit dem Bus nach Riga, insgesamt fünf Stunden inklusive längeren Umsteigepause in Ventspils. Ein Eindruck der Landschaft gefällig? Feld, Wald, Wiese, Wald, Wiese, Feld, Telegrafenmasten, Wiese, Feld, verfallenes Gebäude, Wald, Wiese, Telefonmast mit Storchennest und Storch, Wald, Wald. Manchmal ändert sich die Reihenfolge, und manchmal fährt der Bus von der Landstraße ab, um in einem Dorf mit fünf Häusern Fahrgäste auszutauschen. Doro und Frank haben schon am Vorabend in Riga ein Hotel reserviert, ich wollte unentschlossen, äh spontan, bleiben und denke, dass ich schon was finden werde – booking.com zeigt noch alles mögliche frei an. So trete ich nach Frank an die Rezeption des Wellton Hotels und frage nach einem Zimmer. Es tut ihr leid, meint sie, alles ausgebucht. Na gut, dann halt doch mit Internet. Auf dem Schlaukasterl bietet das ausgebuchte Wellton Hotel weiterhin Zimmer an. Als ich die Rezeptionistin darauf hinweise zuckt sie mit den Schultern, versteht sie auch nicht. Ich soll’s halt im Internet buchen. Heu-Wäg-El-Chen. Ich buche, hinterlege eine Kreditkarte, dass ich auch wirklich kommen werden, und bekomme die Bestätigungsmail. Die Rezeptionistin nicht. Hmmmm, würde ich bitte noch kurz warten. Insgesamt dauert es fast eine halbe Stunde, bis die Azubine und die Chefin mir einen Schlüssel geben können. Am Ende gibt mir die Azubine falsch Wechselgeld raus, und es braucht fünf Minuten sie zu überzeugen, dass sie sich selbst um fünf Euro bescheißt. Beide reden russisch.

Den meisten von Euch ist mein gespaltenes Verhältnis zu dem Land bekannt, wem nicht, der kann ja ein paar der auf 2004 datierten Beiträge in diesem Blog lesen. Um dem ‚gespalten‘ gerecht zu werden, hier ein paar positive und relativierende Worte: Ich habe in meiner Zeit in Russland viele sehr nette und herzlich Russen kennengelernt. Ich hoffe sehr, dass das nicht mittlerweile propaganda-gedopte glühende Putin-anhänger sind. Auch ist mir klar, dass nicht jeder, der russisch spricht, eine persönliche Schuld an dem Krieg in der Ukraine trägt. Auch will ich nicht unerwähnt lassen, dass es viele seeehr attraktive Russinnen gibt.  

Aber.

Wenn ich russisch höre, stellen sich mir die Nackenhaare auf; kyrillische Buchstaben lassen mich die Augen aggressiv verengen. Hier in Lettland, da ist das ex-sowjetische / russische in vielerlei Hinsicht präsent. Deshalb an dieser Stelle etwas lettische Geschichte, ein paar Gedanken, und auch Beobachtungen und Gespräche.

Lettland erklärte sich kurz nach dem ersten Weltkrieg für unabhängig, und weder das Deutsche Reich als Kriegsverlierer noch das durch eigene Probleme beschäftigte Russische Reich konnten dem viel entgegensetzen. Es gab schon damals eine russiche und russischsprachige Minderheit in dem neuen Staat, unter 10%. Das Ganze hielt dann ungefähr 22 Jahre, als die Sowjetunion die Letten (und die anderen Balten) freundlich bat, Ihnen zu erlauben ein paar Militärstützpunkte im Land zu errichten. Freundlich, wie die freundliche Neugier in der Frage „Haben Sie schonmal mit gebrochenen Fingern Ihre Zähne aus einer Blutlache zusammengesammelt?“. 1940 wurden dann die in Lettland unterdrückten Bolschewiken von der UdSSR befreit, und Lettland durfte sich endlich als lettische Sowjetrepublik der SU anschließen, bekamen auch gleich so befreiende Institutionen wie die Cheka und den NKWD mitgeliefert und die Wehrpflicht in der Sowjetarmee. Tausende starben oder wurden deportiert bzw. Lettland wurde von der Bourgeoisie befreit. Als Sowjetrepublik war aber auch Lettland von Hitlers Überfall auf die UdSSR betroffen, und 1941 befreite Deutschland Lettland von den blöden Russen. Das hat damals auch einige Letten wirklich gefreut, allerdings waren sie dann schnell enttäuscht, weil die Deutschen die Gegend als Teil der erbeuteten Sowjetunion ansahen – „meins“. Immerhin konnten die Nazis auch einige Letten als Freiwillige im Kampf gegen die Russen gewinnen. In den nächsten Jahren wurde Lettland dann von Juden befreit, und 1944 waren es wieder die Sowjets, die Lettland befreiten. Die Sowjets waren nun von der Treue der Letten nicht mehr ganz überzeugt, und so wie in der gesamten Sowjetunion herrschte Stalin-Terror, mit Deportationen und Gulags. Da das ganze Sowjetsystem aber natürlich russisch geprägt war, waren es für die Letten nicht ‚unserer verrückter Diktator‘ sondern einfach ‚Besatzer‘. Ģirts erzählt, dass seine Mutter Russen noch immer hasst. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnten sich die Letten wieder für unabhängig erklären, und nun sind über dreißig Jahre vergangen. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit war die russische Minderheit bei 34%.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Sowjets auch aufmüpfige Sibirier nach Lettland deportierten, aber klar ist: unter der Planwirtschaft in der UdSSR wurden Menschen fröhlich verschoben – war ja alles in einem Land. Wir planen in Riga eine große Fabrik für mittelgroße Diesellokomotiven, da schicken wir mal den Professor, die hundert Ingenieure und ein paar tausend Arbeiter hin. Militärangehörige kamen, und blieben dann im Ruhestand in der Gegend. Russisch war nun die Amtssprache, Lettisch nur noch eine tolerierte Minderheitensprache. Jeder, der mehr sein wollte als Hilfsarbeiter musste russisch können, aber viele Immigranten sahen überhaupt keine Notwendigkeit Lettisch zu lernen. Noch immer tut sich Lettland mit diesem Erbe schwer. Lettischer Bürger wurde nur, wer schon vor 1940 in Lettland lebte, und deren Nachfahren. Viele im Land wurden lettische Nicht-Bürger, die Abgrenzung zu Staatenlosen ist kompliziert. Eine Einbürgerung ist möglich, auf internationalen Druck mehrfach vereinfacht, aber die größte Hürde bleibt: der Kandidat muss Lettisch können, und sich zu bestimmten Prinzipien bekennen, die im Gegensatz zu einem russisch geprägtem Geschichtsverständnis stehen. Noch immer gibt es über 200.00 Nicht-Bürger, über 10% der Bevölkerung.

Heute liegt der Anteil der russischen Minderheit bei 26%, und Ģirts meint, sie wären in sich stark gespalten. Eine Gruppe moderner, westlich orientierter die mit Putin sicher nix am Hut haben, sich in die Gesellschaft integriert haben, auch häufig gemischt geheiratet haben; und eine andere Gruppe, meist in größeren Städten, die in ihrer russischen Blase leben, und die lieber an die russische Propaganda glauben, als ihre gesamte vergangene Lebenswirklichkeit in Frage zu stellen.

Der Ukraine-Krieg hat darauf ein Schlaglicht geworfen. Die Balten fühlen sich zu Recht bedroht, und wollen das russische weiter zurückdrängen, und die Russen fühlen sich verfolgt und diskriminiert, wenn jetzt am Bahnhof das kyrillische вокзал abmontiert wird – doch nur ein Zeichen dafür, dass alle gegen die Russen sind. Tatsächlich sehen wir in Riga knapp mehr ukrainische Flaggen als lettische, und auch an anderen Ecken merkt man es deutlich. Auf einem Platz steht ein wahres Meer an ukrainischen Flaggen, vor dem Gebäude an der anderen Straßenseite stehen zwei Polizeiwagen. Wir gucken genauer hin – vor dem Gebäude weht die russische Fahne – wir haben wohl die Botschaft gefunden. An der Fassade des Museums um die Ecke hängt – der Botschaft zugewandt, ein riesiges Bild von Putin mit einem Totenkopf gemorpht. Da geht dem Botschafter sicher jedesmal das Herz auf, wenn er aus dem Fenster sieht. Er wird sich auch darüber freuen, dass im Frühjahr 2022 die für die Postadresse maßgebliche Antonijasstraße in „Straße der ukrainischen Unabhängigkeit“ umbenannt wurde. Als wir am Abend Uldis (der Wirt, der uns auf eine Reise durch interessant aromatisierte lettische Schnäpse nimmt) auf die ukrainische Flaggen ansprechen meint er ohne jeglichen Pathos „Die kämpfen für uns.“ Auch Ģirts war sich sicher: hätte es Lettland nicht in die EU und die NATO geschafft, dann wäre Putin jetzt in ihrem Land.

Jetzt steht hier noch nicht viel zu Riga selber – aber ich schreibe ja auch keinen klassischen Reiseführer. Die Stadt ist auf alle Fälle eine Reise wert, aber das haben wohl schon einige andere gemerkt. Eine hohe Kneipendichte, alles authentisch lettisch. Wir laufen vorbei an Clayton McNamara’s Drinking Emporium, dem Aussie Backpacker’s Pub, Easy Wine, Rock Cafe Riga, Paddy Whelan’s Irish Pub und dem Naughty Squirrel Hostel. Das Schild an einem Pub macht klar, woher der Wind weht: „No stag nights, no hen parties“. Die Daugava, der große Fluss an dem Riga liegt, wäre nicht nur für die Seestern schiffbar, offensichtlich passen da auch die ganz großen Kreuzfahrtschiffe durch. Die haben wohl die ganzen Amerikaner mitgebracht, die Touriführern hinterherlaufen. Aber andere sind auch individuell unterwegs, müssen sich selber um ihr Mittagessen kümmern: „No, Tom, we did not come all the way to Riga to eat at McDonalds“. Die Altstadt ist schön wieder hergerichtet, in der Albertstraße stehen dicht an dicht beeindruckende Jugendstilbauten. Frank hat in Erfahrung gebracht, dass steuerliches Zuckerbrot und Peitsche die Eigentümer verpflichtet, die Fassaden entsprechend zu renovieren. Offensichtlich nur die Fassaden, ein Blick in eine Hofeinfahrt lässt noch ordentlich Gammel und Verfall erkennen. Zwischendrin dann noch ein paar Reste aus der Sowjetzeit – auch hier steht ein Kulturpalast in stalinistischem Zuckerbäckerstil, hier ein paar Skulpturen mit heroischen Befreiern aus der Arbeiterklasse.

Stalinistischer Zuckerbäckerstil

Ģirts (Der nette Lette)

Ģirts ist die Allzweckwaffe von Pāvilosta. Hafenmeister, Zeltplatzverwalter, Tourismus-Minister, Marketingmanager, Fremdenführer und alles was man sonst noch braucht. Tatsächlich ist Ģirts der Grund, warum wir überhaupt in Pāvilosta sind. Als wir im Januar auf der Boot in Düsseldorf waren, war dort ein Messestand der baltischen Staaten, und Ģirts rührte eifrig die Trommel für Pāvilosta. „Der beste Hafen in Lettland, gemütlich und modern, leise, und perfekt angebunden. Es lohnt sich gar nicht, mit dem Schiff nach Riga zu fahren, besser Ihr kommt zu mir, und macht dann einen Ausflug mit dem Bus.“ Was besseres ist uns tatsächlich nicht eingefallen, und Pāvilosta liegt günstig an der Westküste von Lettland, von Gotland aus die kürzeste Strecke. Per Mail hatten wir mit Ģirts einen Liegeplatz reserviert, und er reagiert prompt auf meine SMS – um 5:30 morgens.

Von Valleviken nach Pāvilosta sind es ungefähr 90 Seemeilen, bei fünf Knoten sind das 18 Stunden, aber oft kann man die fünf Knoten auch nicht halten. Also, selbst wenn wir gaaaanz früh aufstehen, ist es nicht garantiert, dass wir noch im Hellen ankommen (was schon fein ist, wenn man den Hafen gar nicht kennt). Dann also ganz anders – wir fahren nachmittags weg, sind die kurze Nacht mitten auf der Ostsee und kommen gemütlich am Morgen in Lettland an. Nachts auf dem offenen Meer ist weniger gruselig, als es sich anhört. Keine Felsen, keine Untiefen, nur ein paar große Schiffe, die man aber mit AIS, ggf. Radar und auch mit bloßem Auge ganz gut sieht. Damit’s etwas spannender wird, verfolgt man den Funkverkehr. Die NATO macht gerade ein Manöver, Schiffe werden gebeten, ihren Kurs zu ändern, ein paar sind auf AIS sichtbar („German Warship Bayern, F217“), andere fahren lieber ohne, aber immerhin gut beleuchtet. Zwischendrin funkt Frank die „Marschall Rukossosvki“ an, dass sie sich an die Regeln hält und uns Segelschiff ausweicht – es wird ihre Fahrt nach Indien schon nicht so lange verzögern.

Der Wind bläst böig bis zu 28 Knoten, aber von der Seite, und so machen wir gute Fahrt. Auch die Welle, die sich aufbaut, bremst uns weniger als gedacht. Zwischendrin mache ich mir schon fast Sorgen, dass wir doch noch vor Sonnenaufgang ankommen, aber so eifrig ist die Seestern am Ende nicht. Die Welle ist mehr geworden, direkt von der Seite schaukelt das Schiff fröhlich hin und her. Ob das ein Thema bei der Hafeneinfahrt sein könnte? Wenn’s blöd läuft, brechen sich die Wellen direkt in der Hafeneinfahrt, so was kann ungemütlich sein. Doch Ģirts beruhigt, schickt um 5:30 per SMS mit einem Webcam-Bild, alles gut. Tatsächlich wird die Welle näher am Land viel weniger, wieder umsonst gesorgt. Kurz vor sieben legen wir in schönster Morgensonne an, es gibt ein Anlegebier für Frank und mich (Doro ist eher nur froh, wieder an Land zu sein), und dann nochmal ein kleines Nickerchen. Frank und ich haben uns zwar abgelöst, aber gut schläft man auf einer solchen Überfahrt nicht, besonders wenn man noch nicht todmüde ist.

Ab Mittag erkunden wir ein wenig die Stadt, oder nennen wir Pāvilosta mal lieber nur „Gemeinde“. An einigen Ecken mondäner Ferienort, aber gegenüber vom Hafen steht verfallene Sowjetarchitektur, inklusive Überwachungstürme. Am Nachmittag kommt dann Ģirts persönlich zum Schiff. Ein gemütlicher, etwas rundlicher Mann mit Vollbart und einem ausgeleierten Pulli, aber unglaublich freundlich. Da wir unser Schiff ein paar Wochen alleine liegen lassen wollen, empfiehlt er uns einen anderen Liegeplatz, der ruhiger und sicherer wäre, dafür weiter von den Toiletten. Wo genau? Er zeigt es mir, wir fahren kurz mit seinem Auto hin. Als ich sitze, fragt er, ob ich etwas Zeit habe – klar. Super, dann gibt’s jetzt ’ne kleine Stadtrundfahrt, die ich hier abgekürzt auch mit Euch mache.

Pāvilosta wurde 1879 von dem deutschen Baron Otto von Lilienfeld als Hafen gegründet, und nach seinem Bruder Paul benannt. Übersetzt heißt es also Paulshafen. Der Baron baute eine Ziegelfabrik, die Ziegel wurden nach Liepāja und Klaipėda verschifft, damals noch Libau und Memel. Später verlagerte sich der Erwerb eher hin zu Fischern, und in der Sowjetzeit war die Stadt und der Hafen weitestgehend militärisches Sperrgebiet – die UdSSR hatte hier Funk und Radar, und natürlich musste aufgepasst werden, dass nicht allzu viele imperialistische Flüchtlinge illegal einreisen. Ģirts erzählt einiges über die Geschichte, was mich wirklich interessiert. Lettland wurde nie erobert, meint er, aber sehr häufig befreit, nicht immer ganz freiwillig. Die Gebäude gegenüber vom Hafen nennt er nur abfällig „Schandflecken aus der Sowjetzeit“, aber erklärt, dass hier gebaut wird wie blöd – viele Feriendomizile von wohlhabenden Menschen aus Riga. Dadurch seien die Immobilienpreise wahnsinnig gestiegen, die lokale Bevölkerung kann sich kaum noch etwas leisten. Das erklärt wohl auch die interessante Mischung an Automobilen – große Mengen von allem, was modern und richtig teuer ist, und dann noch die Gruppe der Autos, die wahrscheinlich vor 15 Jahren noch in Deutschland fuhren, und dann in der ‚kaufe jedes Auto‘ Verwertung gelandet sind. Ģirts wedelt in Richtung einer besonders opulenten Villa – der Kollege da hätte einen Hubschrauberlandeplatz gebaut, als kleine Entschädigung für den Krach hat er die Kinder der Stadt auf kurze Rundflüge eingeladen. Ģirts kennt alle und jeden, winkt Spaziergängern und Autos zu, und erzählt bei einigen deren Lebensgeschichte. Hier ist noch die alte Ziegelfabrik, die zwischendrin eine Brauerei war, und als Ruine nun der Mittelpunkt eines Festivalgeländes darstellt, hier ist das Kulturhaus, dort wohnt ein berühmter lettischer Sänger, praktisch wenn man mal Karten braucht – einfach fragen. Er fährt über die Brücke über den Saka und schimpft: „Diese blöde Brücke, wäre die nicht da, wäre der Fluss auch für Segelschiffe noch fünf Kilometer weit schiffbar, was man da an Infrastruktur machen könnte…“ Überhaupt ist in er in mancherlei Hinsicht mit den Stadtväter oder jedenfalls den Hafeneigentümern nicht glücklich – keine Ahnung haben die, schau Dir mal den Schwimmsteg da an, die drei Liegeplätze in der Ecke kann man für nichts brauchen, höchstens eine Gummiente kann man da parken! Auf der anderen Seite ist eine Werft, der Campingplatz, und das ehemalige Kasernengebiet der Sowjets; dort die Unterkünfte der Offiziere. Aber das hässlichste sei mittlerweile abgerissen, die Grundstücke unter die Leute gebracht, und auch hier entstehen Ferienhäuser, alle möglichst nah am Strand, was in früheren Zeiten die am wenigsten begehrte Lage war – zu kalt, zu nass, zu windig, zu viel Meeresrauschen – wer will das schon? Nach einer knappen Stunde zeigt er mir noch den Liegeplatz, es wären 200m zu Fuß gewesen.

einen Dank an Wastl für die Idee zur reimenden Überschrift

Vereiste Häfen in Schweden

Die Klauen des Winters haben Stockholm noch nicht freigegeben – der Hafen ist noch von einer dicken Eisschicht bedeckt, der die Schifffahrt unmöglich gemacht. So ein Ärger, denn die bösen Dänen in Kopenhagen, bei denen ist schon eisfrei, und die schippern jetzt in der Ostsee herum, und gefährden damit die schwedischen militärischen Ambitionen. Da kommt Admiral Hans Wachtmeister eine gute Idee. Er überzeugt König Karl XI davon, in der neu zu Schweden gefallenen Provinz Blekinge einen weitaus südlicher gelegenen Flottenstützpunkt zu gründen. So entsteht 1679 Karlskrona. Die Gästemarina ist jüngeren Baujahrs; nach einem frühen Start in Utklippan laufen wir um 10 Uhr morgens ein. Mein Job ist es, im Marine- und Freizeitladen unsere neue Frischwasserpumpe zu kaufen, Terje hat sie dort für uns zurückgelegt. Außerdem erstehe ich eine Gastlandflagge für Schweden und auch gleich für das folgende Lettland.

Für Interessierte: Schiffe führen in der Regel die Flagge ihres Herkunftslandes entweder am Heck oder am Besanmast. Damit gibt sich die Seestern als deutsches Schiff zu erkennen. Würden wir ein Seegefecht verlieren, würden wir durch das Einholen der Flagge unsere Niederlage eingestehen, aber das ist der Seestern noch nie passiert. Um anzuerkennen, dass man sich in fremden Gewässern befindet, und vorhat, sich hier als Gast aufzuführen (also keine schwedischen Schiffe anzugreifen), hisst man noch an der Steuerbordsaling die Gastlandflagge. Vergisst man das, beleidigt man nach Seemannsbrauch das Gastland. Ein Schwede hat uns erklärt, dass es praktisch nicht gaaaanz so tragisch sei, keine Gastlandflagge zu haben, aber mit einer dänischen einzulaufen – das könnte die oben angeführten Rivalitäten wieder neu entfachen.

Wie viele Städte, die wir auf unserer Reise sehen werden, ist auch Karlskrona von der Unesco als Welterbe und damit wertvoll befunden wurde; besonders der (ehemalige) Marinestützpunkt. Auf dem mittlerweile nicht mehr militärisch genutztem Teil gibt es nun eine Marinemuseum – nix wie hin. Als besondere Attraktion wird der Wrack-Tunnel genannt – aus dem Museum führt ein Tunnel unter das Wasser und man kann in echt alte Wracks ansehen. In meinem Kopf habe ich Bilder der Titanic, wie sie nun aus tausenden Digitalfotos zusammengesetzt wurde; in dem Tunnel ist es aber eher trübes Wasser und einige schwer zu erkennende vermooste Balken. Immerhin ist es echt, ein Fisch schwimmt vorbei und beobachtet mich interessiert. Fazit: der Tunnel sieht im Reiseführer viel besser aus als in echt. Dennoch verbringe ich einige Stunden hier, bevor wir uns auf dem Schiff wieder treffen, um zu kochen (Nach vorherigen Erfahrungen in Skandinavien haben wir uns für diese Reise auf’s selber kochen geeinigt, denn Restaurants der unteren oder mittleren Preiskategorie sind nach deutschem Empfinden noch immer sehr teuer, und bieten dafür keine adäquate Leistung. Wenn in Skandinavien Essen gehen, dann gleich richtig edel – da fällt es nicht so auf).

Für Frank und mich sind das nun zwei Wochen Segelurlaub, aber unsere Mitreisenden haben jeweils nur eine Woche, mit einer kleinen Überschneidung in der Mitte. Mit Doro haben wir uns geeinigt, dass wir uns am Samstag in Kalmar treffen, die Strecke dorthin halbieren wir grob in Bergskvarna. Was für ein Nest – aber irgendwie nett. Da noch immer Vorsaison ist, liegen drei Segelboote längsseits an der Gästepier, die eigentlich für ein gutes Dutzend Boote nebeneinander gedacht ist. Größter Aufreger ist der Selbstmord von Corinnas Handy. Als sie an Land geht, springt es aus der Tasche in den kleinen Spalt zwischen der Seestern und der Hafenmauer. Wahrscheinlich fühlte es sich vernachlässigt. Wer den Schaden hat, der braucht für den Spott nicht zu sorgen, der kommt hier in den Bilder. Wir verlängern einen Kescher mit der Rettungsstange, und Corinna und Ihr Mann versuchen den Hafenboden damit abzukratzen. Immerhin sollte das Gerät bei doppelter Tiefe ca. 30 Minuten wasserdicht sein. Leider sind weder die abendlichen Versuche noch die am nächsten Tag bei besserem Licht, von Erfolg gekrönt.

Am nächsten Morgen machen wir uns auf nach Kalmar, und nicht nur wir. Auch Doro, die am Donnerstag nach Malmö geflogen ist, und dort am Freitag noch Remote-Office machen musste, ist auf den Weg nach Kalmar, allerdings per Zug. Ein schicksalhaftes Treffen bahnt sich an. Gemeinsam erkunden wir die Stadt. Kalmar hat eine historische Festung, die den mittelalterlichen Hafen schützte, heute dient sie der Edelgastronomie und als Selfie-Hintergrund. Endlich mal ein Gruppenfoto.

Damit sind wir das erste Mal mit Übernachten zu fünft auf der Seestern. Es klappt so, aber langsam wird’s schon eng. Über Wochen wäre es wohl nichts. Corinna und JUB überlegen sich ihre Abreise – wir könnten morgen an die Nordspitze von Öland fahren, und übermorgen nehmen die beiden dann ein Ruf-Bus und andere öffentliche Verkehrsmittel wieder zurück nach Kalmar – so schafft man sich erinnerungswürdige Komplikationen für die Reise. Und so kommt es dann auch – wir haben noch einen schönen Segeltag, bis wir am Abend in Nabbelund ankommen. Ein ehemaliger Fähranleger in einer geschützten Bucht, schon etwas zerfallen, aber für ein paar Segelschiffe wird’s schon reichen. Wie fast überall funktioniert der Hafen auch als Stellplatz für Wohnmobile. Nur der Weg zur Dusche ist etwas beschwerlich. Offensichtlich ist ein Möwenjunges ausgebüchst, und sitzt nun auf der Straße. Die Eltern sind etwas überfordert, es wieder in Richtung Nest zu bewegen, und verteidigen das Kleine nachdrücklich gegen jegliche Fressfeinde, wie eben schmutzige Segler.

Am nächsten Tag verlassen und morgens Corinna und JUB, und wir machen uns auf den Weg auf die nächste Insel. Für den ersten Teil der Strecke geben wir noch das Motorboot, aber dann kommt etwas Wind auf, und wir Segeln bis kurz vor Visby auf Gotland. Ich kenne die Insel hauptsächlich aus der schwedischen Krimiserie „Kripo Gotland“, aber in unserem Umfeld wird niemand ermordet, und es ermitteln keine Schauspieler. Muss aber daheim mal ein wenig in der Mediathek gucken, ob ich ein paar der Schauplätze erkenne. Wahrscheinlich wird die Serie aber auf einer Soundstage in Schwedisch-Hollywood gedreht. Wir probieren mal wieder ein schwedisches Restaurant – nicht sooo schlecht, aber ich schätze wir werden weiter recht häufig an Bord kochen. Die Stadt selbst ist knuffig, witzige kleine Häuser, alte Steine und Kirchruinen. Aber der Hafen ist unverhältnismäßig teuer, und so beschließen wir, einen Hafen weiter nach Norden zu fahren, in die Metropole Lickershamn. Früher wohl ein verschlafener Fischershafen, heute noch verschlafener mit ehemaligen Fischerhütten, die üblichen Wohnmobile, und ein fast leerer Hafen. Es ist warm und sonnig, ohne Wind wird’s Zeit für kurze Hosen. In einem seltenen Anfall von Putzwillen, beschließe ich das Cockpit mal sauber zu machen. Obwohl ich ungern putze, macht das Planschen Spaß; eimerweise Wasser über’s Schiff zu kippen. Leider kommt mir dabei der Eimer – auf einem Schiff Pütz genannt – aus. Ich gebe mich aber nicht so schnell geschlagen, am nächsten Morgen engagiere ich einen Taucher. Am Abend dann noch einen Sunset mit Tequila Sunrise – die Eiswürfel müssen genutzt werden. Ich versuche eine Zeitraffer-Aufnahme des Sonnenuntergangs zu machen, aber wie bei so etwas üblich verreckt der Akku gerade als die Sonne im Meer versinkt.

Das mit dem Taucher ist kein Witz – der Kollege ist ein Profi mit Support von Land – dort steht der Kompressor, mit einer langen geschlängelten Leitung wird er versorgt, kann sogar mit den Kollegen reden. Als ich auf dem Weg zur Dusche bin, sehe ich ihn, begrüße ihn freundlich mit „Das wäre jetzt aber nicht nötig gewesen, mit so einem Aufwand wegen unserer Pütz zu kommen“. Er schaut irritiert, eigentlich wird er für die Sanierung des Kais bezahlt. Aber er hört sich mein Unglück an, meint pragmatisch, dass so ein Eimer ja auch einfach nicht ins Meer gehört, als ich vom Duschen zurückkomme steht er wieder an Deck. Als ‚Bezahlung‘ bringe ich den zwei Arbeitern auf der Hafenmauer drei Dosen polnischen Biers; sie bedanken sich erfreut und wiederholt. Offensichtlich teilen Sie den Biergewinn auch dem Taucher mit, auch wenn ich den Wortlaut nicht verstehe, vernehme ich fröhliches Gelächter aus der Tiefe (also aus dem Lautsprecher, der aus der Tiefe gespeist wird). Wir legen ab, ohne den Taucher zu zerhäckseln, und machen uns auf den Weg um die Nordspitze Gotlands. Nachdem die Segelei der letzten Tage jeweils nur auf Segel setzten und ein paar Stunden später Segel bergen beschränkt haben, gibt es heute tatsächlich ein paar Manöver, wir müssen etwas gegen den Wind ankreuzen, für eine Strecke ganz im Norden machen wir auch ganz faul den Motor an – das Kreuzen ist zäh, besonders bei der Welle, und wir wollen ja auch noch ankommen. Nachdem wir den nördlichsten Punkt unseren Reise erreicht haben, biegen wir nach Süden in den Farösund ein, zwischen Gotland und der vorgelagerten Insel Farö. Hier ist keine Welle, und wir Segeln durch das eher enge, betonnte Fahrwasser. Am südlichen Ende des Sunds biegt dieser ein wenig gegen den Wind ab, und wir müssen alle paar hundert Meter wenden. Ich bin etwas feig, den Motor lasse ich im Leerlauf mitlaufen, denn wenn man eine Wende verkackt, ist die nächste Untiefe nicht weit. Aber wir schaffen die gesamt Strecke, ohne den Gang einzulegen, und segeln bis kurz vor dem Ziel der Wind einschläft.

Als Übernachtungsplatz haben wir uns Valleviken ausgesucht – ein ehemaliger Kalkhafen, der schon mal bessere Zeiten gesehen hat. Auf dem Gelände neben dem Hafen stehen neben den obligatorischen Wohnmobilen auch einige Boote, die so aussehen, als wären sie schon lange nicht mehr im Wasser gewesen, und ein paar düstere Lagerhallen aus bunt gemischten Materialien. Wenn man hier trüberes Wetter abwartet, könnte es gut als Kulisse für den nächsten Gotland-Krimi dienen. Aber der Hafen liegt günstig, um am nächsten Tag den Sprung nach Lettland zu wagen.