The long road back

Ein langer Hupton erklingt über den Hafen von Dirhami. Wir sind etwas irritiert. Es ist nicht viel los, und wir haben während des Anlegerbiers niemanden gesehen, der Grund hätte zu hupen (Seemännisch: „Pfeifen“). Der Ton erklingt noch einmal, und JUB ortet die Quelle: Eine Saxophonistin läuft auf dem Steg gegenüber im Tross einer betrunkenen, feiernden Meute auf ein Boot zu, und sie hat wahrscheinlich den niedrigsten Ton gespielt, den ihr Sax hergibt. Wir können nicht widerstehen, und drücken auch auf unsere Pfeife. Die soll nur warnen, und hat ein schiefes Vibrato. Andere liegende Boote in dem Hafen folgen unserem Beispiel. Die Keira, ein estnisches Fischerboot gegenüber, hat seine Pfeife wohl schon länger nicht benutzt. „Pffftbbbbbrrr“. Man sieht Bröckerl aus der Pfeife kommen, vielleicht war das ein Vogelnest. Doch dann sind die Fremdkörper entfernt, und ein wirklich lautes Typhon erklingt mit durchdringendem „Tuuut“. Jetzt stimmt die Saxophonistin den „Rosa Panther“ an, da können wir nicht mithalten. Sie klettert auf ein Segelboot, welches ablegt und in die Abenddämmerung ausläuft.

Wir sind bei leichtem Wind von Lohusalu nach Dirhami gesegelt; da waren wir zwar schonmal, aber so eng gesät sind die Häfen auch nicht – der nächste wäre vier Stunden weiter, und das fast ohne Wind. Außerdem – das Restaurant war nicht schlecht, da könnte man auch was anderes von der Karte probieren. Tatsächlich ist heute das „Crayfish Festival 2023“, es gibt eine live spielende Solo-Künstlerin (Die Saxophonistin hat auch ein Keyboard und kann singen), und der Laden ist proppevoll. Crayfish ist irgend so ein Viech wie Hummer, Languste oder Shrimp, genau wissen wir’s nicht, aber es gibt die Probier-Vorspeise „1 Crayfish with one glass of Aquavit“. Na dann, her damit. Es kommen drei Mini-Hummer, und Frank bemüht Google-Translator zu „Flusskrebs“. Mühsam bekommt man aus der Delikatesse ungefähr so viel Fleisch wie meinen kleinen Finger, aber wir mutmaßen, dass es auch eine „gesehen werden“ Speise ist. Der laute Tisch in der Mitte – die Gruppe, die am Nachmittag mit Segelboot und Saxophonistin auslief – bekommt eine große Platte. Am Strand vor dem Lokal ist ein großer Scheiterhaufen aufgebaut, einen ähnlichen hatten wir am Vorabend in Lohusalu gesehen. Wir fragen die Bedienung danach. Wie beim letzten Mal glänzt diese mit komplettem Unwissen, ist aber sehr freundlich. Es kommt die Chefin, und erklärt, dass er heute um 20:30 angezündet wird, um das Ende der Sommersaison und der Ferien zu feiern. Also ein SonnEndfeuer. Ob da überall an der Küste eines steht? Pünktlich um halb neun wird der Haufen angesteckt, wir nehmen noch einen Nachtisch.

Danach noch etwas in das runterbrennende Feuer schauen, das mir irgendwie symbolisch für das Ende unseres Urlaubs und der diesjährigen Segelsaison ist. Oli ist schon abgereist, wir haben uns endgültig für das Winterlager entschieden, und die Rückreise geplant, und JUB hat seine Rückreise ohne Flugzeug klar gemacht (Bus nach Tallinn, Fähre nach Stockholm, Nachtzug nach Hamburg, Zug nach Fellbach). Auch unsere Hafenplanung ist weniger nach dem Prinzip „Wo können wir zu aufregenden neuen Ufern aufbrechen?“ sondern mehr „Wie wählen wir die nächsten Häfen, so dass uns nicht der Wind irgendwo festsetzt, wo wir danach nicht mehr nach Kärdla kommenl?“

Tatsächlich sind auch an anderen Stellen der Bucht Feuer zu sehen, und an einer Stelle ein richtige Lichterkette. Bei genauerer Beobachtung bewegt sich die Lichterkette. Als wir am Ende der Hafenmauer stehen, weht der Wind Fetzen von Stimmen oder Gesang zu uns rüber. Wir beginnen, unsere Phantasie freien Lauf zu lassen. Wahrscheinlich lauter Gestalten in schwarzen Kutten, die auf Estnisch „Tod den Touristen“ in makabren Sprechgesang beschwören – und sie bewegen sich auf unseren Hafen zu. Bibber. Wir riskieren einen Blick – keine Kutten, dafür Familien und andere Grüppchen die an einer Nachtwanderung teilnehmen. Das Chorale kommt von dem Anführer der Gruppe, der in ein Funkgerät wissenswertes zur Geschichte erzählt. Blechern klingt es aus den Walkie-Talkies, die die anderen Teilnehmer tragen. Dennoch – die Gruppe läuft hinter dem Restaurant auf eine Wiese ein, die auch von hunderten Kerzen gesäumt ist. Sehr romantisch, das alles.

Am nächsten Morgen, als ich von der Dusche komme, treffe ich die Saxophonistin auf der Treppe des Restaurants sitzen und spreche sie an. Sie wäre „Komponistin“ und Musikerin und hat gestern zu dem Geburtstag des Eigentümers der Restaurants und einiger angeschlossenen Betriebe gespielt. Jetzt wartet sie, dass die Partygänger aufwachen, damit sie ihr Saxophon aus einem Auto holen kann, und mit dem Bus wieder zurück nach Saareema fahren. Aber immerhin – sie bekommt im Restaurant frische Pfannkuchen und Kaffee für umsonst, und wurde auch gestern mit der ganzen Gruppe verköstigt. Das Leben der Künstlerin: „Heute Kaviar und Champagner, morgen Spaghetti mit Salz“.

Am Tag drauf ist scheußliches Wetter und Sturm angesagt, da wollen wir lieber einen Hafen an einer Stadt haben als unsere vorher geplante Alternative. Also wieder nach Haapsalu, obwohl wir da auch schon waren. Die Alternative wäre Sviby auf Vormsi, gewesen, krasseste Beispiel eines End-of-the-road-Hafens, welches unser Hafenhandbuch beschreibt. Eigentlich nur der Fähranleger mit ein paar Stegen daneben, 7km zur nächsten Ortschaft. Wir warten dennoch den Vormittag in Dirhami ab, am Nachmittag soll der Wind günstiger für unseren weiteren Weg werden. Es wird ein schöner Segeltag, nur die letzten 45 Minuten müssen wir unseren Diesel bemühen, um die enge Zufahrt zum Hafen zu meistern.

Richtige Entscheidung – am Montag regnet es von morgens um sieben bis nachmittags um fünf abwechselnd stark, mäßig, reichhaltig, und ergiebig; dazu peitscht der Wind bis zu Sturmstärke. Immerhin – die perfekte Zeit, um etwas Workcation zu machen. Dienstag geht’s weiter auf die Insel Hiiuma, wo wir die Seestern für den Winter lassen.

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