Curacao, Rucola, Louisiana – estnischer Hafenkunde.

„Lööu-na-rannaa“. Olaf sagt es mir nochmal vor, aber ich bin einfach zu blöd es mir zu merken. Estnisch erschließt sich mir nicht intuitiv. Es ist eine eng mit dem Finnischen verwandte Sprache, damit auch ein wenig mit dem Ungarischen. Zu allen fehlt mir der Zugang. Ich zitiere ein wenig Wikipedia: „Estnisch ist eine flektierend-agglutinierende Sprache, und besitzt 9 Monophthonge, die in drei Quantitätsstufen (kurz vs. lang vs. überlang) auftreten können. Die Quantität gilt hierbei als distinktives, also bedeutungsunterscheidendes Merkmal.“ Den Rest des Artikels habe ich erst recht nicht mehr verstanden. Jedenfalls gibt es einen Buchstaben „Õ“, der dem deutschen „Ö“ ähnlich ist, aber halt nur ähnlich. Ein estnisches „Ö“ gibt es auch. Dazu lauter Buchstabendoppelungen, die offensichtlich die Bedeutung ändern. Na super. Wir geben auf, wenn wir unter uns von den Häfen reden. Kuressaare wird zu Curaçao, Rohuküla zu Rucola, und Lõunaranna wird zu Louisiana. Aber die Esten sind geduldig, und freuen sich wie ein Schnitzel, wenn man sich landessprachlich bedankt. Ich hab‘ mir „Aida“ gemerkt, aber Google meint „Aitäh“; wenn man genug nuschelt kommt es trotzdem an.

Olaf ist der Hafenmeister von Louisiana, ich treffe ihn, als er gerade eine schwedische Fahne von der Ansammlung von Fahnenmasten im Hafen einholt. Offensichtlich ist es in vielen Häfen die Gewohnheit, die Flaggen der aktuell dort liegenden Schiffe zu zeigen. Ob er gleich wegen uns eine deutsche holen wird, frage ich ihn, und er erwidert voll des Ernstes, dass er das natürlich vorhat, jetzt wo er weiß, dass wir hier sind. Ich versuche ihn zu beruhigen, wir wären sicher nicht beleidigt, würde er es unterlassen. „Aber nein“ meint er, und warum wir Deutschen immer so verschämt wären, mit unserem Patriotismus? Ich mutmaße, dass es an zwei angefangenen und verlorenen Weltkriegen liegt, aber er relativiert sofort, dass die Soviets ja viel schlimmer waren.

Wie öfters hier, ist der Hafen ein Kombi-Paket mit Zeltplatz, und an der Rezeption hängt außen eine Bierwerbung. Innen läuft unbeachtet ein Fernseher, es gibt einen Kühlschrank mit Bier und einen großen gemütlichen Tisch. Ich sehe die Chance, hier mal etwas mit einem echten Esten zu sprechen, und frage ihn, ob ich ihn auf ein Bier einladen kann. Ach ja, warum nicht meint er, und wir setzen uns mit jeweils einer Flasche an den Tisch. Ich schreibe fix den anderen, warum ich nicht von der Toilette wiederkomme, und ob sie auch Lust haben, aber erstmal trinken wir jeder zwei Flaschen alleine. Olaf war vor dem Ruhestand Bauunternehmer, heute betreibt er den Campingplatz und Hafen als Hobby, weil er dann viel Zeit hat, sich um seine Enkel zu kümmern. Nach einer guten Stunde, im Fernsehen kommt eine Aufzeichnung eines Konzertes mit traditionellem Liedgut zum heutigen Nationalfeiertag, gesellen sich die anderen zu uns. Ein paar Fragen werden nochmals durchgekaut, und im Fernsehen kommt eine Art Kammerspiel zwischen zwei Kabarettisten, die irgendwie die alte und neue Zeit verkörpern. Was haben wir erfahren? Eine Auswahl:

  • Die Saison in Estland ist Mitte August vorbei.
  • Das Segeln, oder überhaupt Bootfahren als Hobby hat in Estland keine Tradition (mehr), da in Sovietzeiten das private Bootfahren natürlich nur Fluchtvorbereitung war.
  • Die estnischen Gewässer sind sehr mit Vorsicht zu genießen, wegen der vielen Steine. Einschub: Auf dem Weg hierher bin ich mit dem Kiel auf Steine gerumpelt, in einem Bereich, wo die Seekarte eindeutig mehr Wassertiefe angezeigt hat. Mal sehen, was uns das kostet, wenn wir das Schiff aus dem Wasser holen.
  • Das Meer könne in dieser Gegend in manchen Jahren bis zu einem Meter zufrieren, das würde dann viele Steine verschieben. Einschub: ich bezweifele dass es daran liegt.
  • Der Westen wäre viel zu naiv, wenn es um die Bedrohung durch Russland geht. Hier, ca. 120 km von der russischen Grenze, wäre die Gefahr viel offensichtlicher.
  • Hauptwirtschaftszweige: Holz und IT-Dienstleistungen.
  • An die Mücken gewöhnt man sich. Einfach ignorieren.
  • Estland und Lettland wären sich kulturell sehr ähnlich, Litauen allerdings eher anders.
  • Deutsche Kultur hat die beiden Staaten sehr geprägt, und wird (zumindest von Olaf) als sehr positiv angesehen. Auch wenn es schon lange nicht mehr zu deutschem Staatsgebiet gehören wurde, war das Land stark von deutschem Adel geprägt, und Deutsch war bis mindestens 1918 die Kultur- und Hochsprache, ebenso wie Französisch in anderen Teilen Europas.
  • Der Re-Boot des Landes nach der Unabhängigkeit 1991 war eine aufregende Zeit.

Obwohl wir eigentlich schon genug haben, trinken wir danach auf dem Schiff noch ein klitzekleines Gläschen Rum. Wieder ein gelungener Abend.

Noch ein Thema zu den Häfen hier. Es ist tatsächlich eher seltener, dass der Hafen der Mittelpunkt eines netten Fischerstädtchens ist. Die meisten Häfen sind vom Meer aus als zwei bis drei Häuser zu erkennen, die dort gebaut wurden, wo die Straße aus dem Wald kommt (Bislang in dieser Kategorie: Mõntu, Kõiguste, Lõunaranna). Wenn man an Land geht, erkennt man noch drei bis vier weitere Häuser, aber dann ist meist Schluss. Immerhin scheinen manche dieser End-of-the-Road Häfen auch Ausflugsziele zu sein, deshalb ist manchmal ein Restaurant dabei.

Ziel des nächsten Tages ist Haapsalu, mit einem kurzen Tank-Stopp in Kuivastu. Wir kommen eher am Abend an, das Restaurant hat eine geschlossene Gesellschaft, aber so machen wir Hähnchen-Curry. Haapsalu, früher Hapsal ist nett, bekannt für sein Schlammbäder zu Kurzwecken. Bischofskastell, Kurhaus, nette Altstadt, Tschaikovsky-Gedächtnis-Bank, theoretisch auch einige Museen. Wir schlendern durch Haapsalu, danach an der Promenade zurück. Das Städtchen wurde ordentlich rausgeputzt. Was wir am Ende aber wirklich neu finden: Neben der Reha-Klinik ist ein Behinderten Spielplatz/Trimm-Dich-Pfad/Parcours. Schaukeln sind auf Rollstühle angepasst, es gibt einen Parcours mit diversen Hindernissen, die ein Rollstuhlfahrer umgehen muss (10 cm hohe Schwelle, Kopfsteinplaster), und verschiedene Sportgeräte, die man anfahren kann. Am Nachmittag frischt der Wind endlich auf, und wir fahren weiter nach Norden. Wir haben beschlossen, nach Tallinn zu fahren, und danach nach Helsinki – so bringen wir Oli zum Flughafen, und machen immerhin einen Abstecher in eine Stadt, die den meisten Leuten vom Namen her geläufig ist. Als Zwischenstation dorthin halten wir in Dirhami an, wo es ein tolles Fischrestaurant geben soll. Tatsächlich eine eher ambitionierte Küche in einem weiteren End-of-the-Road Hafen, der offensichtlich auch von EU-Fördergeldern zur Herstellung der Infrastruktur profitiert hat.

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