Seelische Grausamkeit und Reasons to be cheerful, Part two

Was aus dem Archiv – von 2003 an war ich recht häufig in Russland. Hat mir nicht so gefallen. Teilweise fühlte ich mich etwas … alleine. Damals gab es noch keine Blogs, aber einen gewissen Mitteilungsbedarf hatte ich dennoch. Also schrieb ich e-mails, an einen großen Verteilerkreis, und hoffte dass jemand zurückschreibt. Diese Mails habe ich jetzt ausgebuddelt, und teile sie mit Euch. Ich habe außer hanebüchenen Rechtschreibfehlern nichts verändert – wegen der Authentizität, nicht weil ich zu faul bin!

An: russlandmeckerkaestchen@osram.de

Seelische Grausamkeit

Als witziger Anfang für ein Mail aus dem Flugzeug (geschrieben, nicht verschickt) kam mir dieses Lied in den Sinn, bei Eltern zwangsgehört und deshalb heute mit behaglicher Kindheitsgeborgenheitserinnerungen befrachtet – „Über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“ Offensichtlich hat Reinhard Mey noch nie in den überdimensionalen Blechbüchsen gesessen, die heute ein bunte Mischung aus kostensparenden Businessleuten und von Erholung ermatteten Russen nach Moskau transportieren. Immerhin, durch Zusammensitzwünsche einer Russin ist der Mittelplatz jetzt wieder frei. Am Gang wird ein zweisprachiger Vertrag mit Textmarker traktiert, hier am Fenster ist vor kurzem der Spiegel lesen langweilig geworden. Außerdem weht schon der verlockende Duft von in heißem Wasser ertränktem Gemüse durchs Flugzeug.

Eigentlich bin ich ja nur grantig. Habe den Vormittag mit Packen & der Rückgabe der Heliumflasche von der Hochzeit verbracht, wurde dann bei dem Brautpaar noch zum Frühstück mit Freunden eingeladen. Das Brautpaar befindet sich alten Gebräuchen folgend in den Vorbereitungen auf Ihre Flitterwochen auf Sardinien. Frühstück außerdem auf der Terrasse. Camembert von französischen Hochzeitsgästen mitgebracht, Kaffee in strahlender Sonne, ein fröhliches Brautpaar mit glucksendem Kind; irgendwie eine subtile Variante der jüngsten Geschichten aus dem Irak. Seelische Grausamkeit par excellence. Gedanken geistern, zugegebenermaßen keine neuen, aber diesmal lauter. „ICH WILL NICHT“ „Hab ich vielleicht doch den falschen Beruf gewählt?“ „Warum ausgerechnet ……?“. Das Sahnehäubchen auf die Folter kommt in der Form des an sich peinlichen Biergartens am Flughafen (nicht der Air-Bräu oder so, sondern die zwischen Parkgarageneinfahrt und Terminal 1 eingeklemmten Löcher mit Tischen drin – aber da sitzen dann Leute und trinken im Sonnenschein Weißbier). Buhuhuhuhuhu!!!

Mittlerweile ist das leckere Essen vorbei. Neben dem erwähnten Gemüse hat wohl noch ein Tier unbekannter Spezies sein unrühmliches Ende hier gefunden, und einige Nudeln wurden misshandelt. Außerdem das eindeutige Produkt aus einem Joint-Venture von einem talentlosen Bäcker und einer Reifenfabrik. Reisen ist so glamourös.

Bin ja gespannt ob der Koffer mitkommt. Wäre doch eine gute Show, wenn man zum WoDiBo [Anm. d. Redaktion: Wolf-Dieter Bopst, damals Geschäftsführer der OSRAM GmbH, CEOs gab’s damals nicht] treffen in Jeans und Freizeithemd, etwas ungewaschen nebenbei, auftaucht. Hab immerhin 5 Minuten vor der Abfahrt von daheim gemerkt, dass ich keine Krawatte eingepackt hatte. Quel Omen!?

Mira, Ihres Zeichens Dr. der Neurologie, meinte nach SMS-Klagen über seelische Grausamkeit sie könne mich wegen ‚psychischer Dekompensation‘ krankschreiben. Sie müsste mich dann allerdings in die Psychatrie einweisen, aber ich könnte zum Biergartenbesuch Freigang erhalten. Leider ging das Flugzeug los, bevor ich mich nach der deutschen Übersetzung erkundigen konnte. Ob es wohl ansteckend ist?

Ich werde jetzt versuchen, eine positivere Grundhaltung zu entwickeln. Durch Wolken hindurch sieht man (wahrscheinlich) Weißrussland, dort liegt auch kein Schnee mehr, und die Sonne scheint (halt immer an den Wolken vorbei). Wahrscheinlich gibt es auch in Smolensk gemütliche Biergärten, gefüllt mit freundlichen Leuten – um von der aggressiv zur Schau gestellten Weiblichkeitsvermarktung gar nicht zu sprechen. Was brauch‘ ich da noch den Englischen Garten? Sollte die massive Selbsttäuschung erfolgreich sein, lass ich es wissen.

[Anm. d. Redaktion: zur gleichen Zeit flog die OSRAM Chefetage auch nach Moskau, allerdings in Lufthansa, und die war für Muckels wie mich zu teuer]

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Reasons to be cheerful, Part two.

Positiv betrachtet muss man es so sehen: Ich riskier jetzt jedenfalls nicht mein Leben auf irgend einer russischen Straße. Die Passkontrolle war mit nur einer ¾ Stunde Wartezeit so halb-gnädig. Man sieht dabei Bekannte – ich einen, neben dem ich schon vor fünf Wochen eine halbe Ewigkeit gewartet habe. Zoll geht erstaunlich problemlos. Dann raus dem Sicherheitsbereich, gespannt auf das Gefährt des Tages. Wird es der Abgas-stinkende Minibus sein – oder gar ein Chef-Wolga?. Letztendlich ist es jetzt ein Transportmittel mit ca. 4000PS geworden, und Platz für Hunderte von Leuten. Ein Fahrer von SVET ist jedenfalls nicht am Flughafen gewesen. Nach einer weiteren ¾ Stunde und etwas mobiler Telefoniererei steht fest: Alle Fahrer sitzen in Smolensk – Herr Litvinov (zwischendrin als schuldbewusst beschrieben) hat mich vergessen. Also auf zu neuen Abenteuern. Der offizielle Taxi-Dispatcher zeigt mit eine Liste mit Preisen Flughafen-Innenstadt. 103 US-Dollar. Als ich ihn – ich war gewarnt – ärgerlich den Rücken kehre läßt er sich auch auf 30€ ein. War wohl immer noch zu teuer, die Verhandlung ging recht schnell. Am Belorusskaya Voksal bekomme ich am fünften Fenster dann auch tatsächlich eine Karte nach Smolensk. Es gibt zwar keiner zu, Englisch zu können, aber genervt durch die durch mich entstehende Verzögerung erklärt die hinter mir die möglichen Klassen: „Coupé – 4 men, Esswee – 2 Men“ Ein wenig deppert weiterfragen bringt mich zum richtigen Zug, in den richtigen Wagon, und die Schaffnerin hat mit hoher Wahrscheinlichkeit verstanden, dass sie mich in Smolensk wecken soll. Sonst gibt’s die nächste Fortsetzung aus – keine Ahnung eigentlich, scheinbar heißt die Endstation Mogilev. Never heard of it. In der Hoffnung auf etwas spontane Kommunikation verschick‘ ich ein paar SMS, doch langsam knickt das Netz ein. So ist das halt in der russischen Taiga (geografisch wahrscheinlich nicht ganz korrekt -weiß das jemand?, aber wie soll man die Pampa hier sonst nennen?) Wenn ich das Ticket richtig interpretiere, kommt der Zug um 2:47 in Smolensk an. Fein. Dann kann ich wahrscheinlich immerhin 3 Stunden schlafen, bevor ich spontan meine Projekte vor WoDiBo vortrage.

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 Back to life.

So, Dienstag Abend jetzt. Ich bin optimistisch, dass der PC sich irgendwann ins Netz loggen wird. Warum eigentlich? Sonst klappt hier doch auch nix.

Doch vorher kurz die Vollendung von gestern Abend. Zug kommt pünktlich an, Herr Litvinov persönlich holt mich vom Bahnhof mit dem Taxi ab (Schuldbewusst ist untertrieben, sooooooo klein mit Hut trifft’s eher. Er besteht sogar darauf, meinen Koffer bis aufs Zimmer hochzutragen) Leider war ich noch etwas aufgedreht, um kurz nach vier lausche ich noch immer den Vögeln vor dem Fenster (Ob es eigentlich auch Vögel gibt, die sich damit schwer tun, morgens so früh aufzustehen und zum Zwitschern anzutreten?).

Vor WoDiBo vortragen muss ich übrigens nix. (Angesichts der nicht zu meldenden Erfolge wohl eine Wohltat). Dass WoDiBo schnell noch informiert wird, wer ihm da eben die Hand schüttelte und was ich hier mache, rückt auch alles wieder in die richtige Perspektive. Immerhin winkt mich Dr. Schaefer [Anm. d. Redaktion – damals der technische Geschäftsführer] freundlich an seinen Frühstückstisch und gönnt mir tagsüber einige Schulterklopfer komplett mit einem Du-arme-Sau-Blick.

Die Ernüchterungen kommen auch schnell – Der brandeilige Pastenraum vom letzten Mal sieht noch genauso aus wie vor fünf Wochen; der Vakuumpumpenraum sieht genau so beknackt aus, wie es sich auf dem Plan andeutete, außerdem ein paar Wochen hinter Plan; das Material für die Behälter, die nächste Woche fertig sein sollten kommt vielleicht in zwei; und im Kompressorenraum sammeln sich Belege für die Abwandlung von Murphy’s Law: “if anything can be done wrong, it will“. Die funktionale Stahlbewehrung des Betonbodens fehlt, weil sie jemandem zu teuer vorkam; dafür ist die völlig unsinnige Verkleidung einer Scheißegal-Wand mit Rigipsplatten im vollem Gange. Während ich zur Frustbewältigung etwas lauter als normal werde, wird weiter fröhlich Beton auf dem Boden verteilt. So viel zum Thema “Wie läuft’s?“

Bis dann, Ich-wär-lieber-im-Biergarten-Chris