Riga und der sowjetische Hauch

Guck mal, eine Tankstelle! Allmählich gibt man sich auch mit kleineren Sehenswürdigkeiten zufrieden, wenn man aus dem Bus schaut. Wir fahren mit dem Bus nach Riga, insgesamt fünf Stunden inklusive längeren Umsteigepause in Ventspils. Ein Eindruck der Landschaft gefällig? Feld, Wald, Wiese, Wald, Wiese, Feld, Telegrafenmasten, Wiese, Feld, verfallenes Gebäude, Wald, Wiese, Telefonmast mit Storchennest und Storch, Wald, Wald. Manchmal ändert sich die Reihenfolge, und manchmal fährt der Bus von der Landstraße ab, um in einem Dorf mit fünf Häusern Fahrgäste auszutauschen. Doro und Frank haben schon am Vorabend in Riga ein Hotel reserviert, ich wollte unentschlossen, äh spontan, bleiben und denke, dass ich schon was finden werde – booking.com zeigt noch alles mögliche frei an. So trete ich nach Frank an die Rezeption des Wellton Hotels und frage nach einem Zimmer. Es tut ihr leid, meint sie, alles ausgebucht. Na gut, dann halt doch mit Internet. Auf dem Schlaukasterl bietet das ausgebuchte Wellton Hotel weiterhin Zimmer an. Als ich die Rezeptionistin darauf hinweise zuckt sie mit den Schultern, versteht sie auch nicht. Ich soll’s halt im Internet buchen. Heu-Wäg-El-Chen. Ich buche, hinterlege eine Kreditkarte, dass ich auch wirklich kommen werden, und bekomme die Bestätigungsmail. Die Rezeptionistin nicht. Hmmmm, würde ich bitte noch kurz warten. Insgesamt dauert es fast eine halbe Stunde, bis die Azubine und die Chefin mir einen Schlüssel geben können. Am Ende gibt mir die Azubine falsch Wechselgeld raus, und es braucht fünf Minuten sie zu überzeugen, dass sie sich selbst um fünf Euro bescheißt. Beide reden russisch.

Den meisten von Euch ist mein gespaltenes Verhältnis zu dem Land bekannt, wem nicht, der kann ja ein paar der auf 2004 datierten Beiträge in diesem Blog lesen. Um dem ‚gespalten‘ gerecht zu werden, hier ein paar positive und relativierende Worte: Ich habe in meiner Zeit in Russland viele sehr nette und herzlich Russen kennengelernt. Ich hoffe sehr, dass das nicht mittlerweile propaganda-gedopte glühende Putin-anhänger sind. Auch ist mir klar, dass nicht jeder, der russisch spricht, eine persönliche Schuld an dem Krieg in der Ukraine trägt. Auch will ich nicht unerwähnt lassen, dass es viele seeehr attraktive Russinnen gibt.  

Aber.

Wenn ich russisch höre, stellen sich mir die Nackenhaare auf; kyrillische Buchstaben lassen mich die Augen aggressiv verengen. Hier in Lettland, da ist das ex-sowjetische / russische in vielerlei Hinsicht präsent. Deshalb an dieser Stelle etwas lettische Geschichte, ein paar Gedanken, und auch Beobachtungen und Gespräche.

Lettland erklärte sich kurz nach dem ersten Weltkrieg für unabhängig, und weder das Deutsche Reich als Kriegsverlierer noch das durch eigene Probleme beschäftigte Russische Reich konnten dem viel entgegensetzen. Es gab schon damals eine russiche und russischsprachige Minderheit in dem neuen Staat, unter 10%. Das Ganze hielt dann ungefähr 22 Jahre, als die Sowjetunion die Letten (und die anderen Balten) freundlich bat, Ihnen zu erlauben ein paar Militärstützpunkte im Land zu errichten. Freundlich, wie die freundliche Neugier in der Frage „Haben Sie schonmal mit gebrochenen Fingern Ihre Zähne aus einer Blutlache zusammengesammelt?“. 1940 wurden dann die in Lettland unterdrückten Bolschewiken von der UdSSR befreit, und Lettland durfte sich endlich als lettische Sowjetrepublik der SU anschließen, bekamen auch gleich so befreiende Institutionen wie die Cheka und den NKWD mitgeliefert und die Wehrpflicht in der Sowjetarmee. Tausende starben oder wurden deportiert bzw. Lettland wurde von der Bourgeoisie befreit. Als Sowjetrepublik war aber auch Lettland von Hitlers Überfall auf die UdSSR betroffen, und 1941 befreite Deutschland Lettland von den blöden Russen. Das hat damals auch einige Letten wirklich gefreut, allerdings waren sie dann schnell enttäuscht, weil die Deutschen die Gegend als Teil der erbeuteten Sowjetunion ansahen – „meins“. Immerhin konnten die Nazis auch einige Letten als Freiwillige im Kampf gegen die Russen gewinnen. In den nächsten Jahren wurde Lettland dann von Juden befreit, und 1944 waren es wieder die Sowjets, die Lettland befreiten. Die Sowjets waren nun von der Treue der Letten nicht mehr ganz überzeugt, und so wie in der gesamten Sowjetunion herrschte Stalin-Terror, mit Deportationen und Gulags. Da das ganze Sowjetsystem aber natürlich russisch geprägt war, waren es für die Letten nicht ‚unserer verrückter Diktator‘ sondern einfach ‚Besatzer‘. Ģirts erzählt, dass seine Mutter Russen noch immer hasst. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnten sich die Letten wieder für unabhängig erklären, und nun sind über dreißig Jahre vergangen. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit war die russische Minderheit bei 34%.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Sowjets auch aufmüpfige Sibirier nach Lettland deportierten, aber klar ist: unter der Planwirtschaft in der UdSSR wurden Menschen fröhlich verschoben – war ja alles in einem Land. Wir planen in Riga eine große Fabrik für mittelgroße Diesellokomotiven, da schicken wir mal den Professor, die hundert Ingenieure und ein paar tausend Arbeiter hin. Militärangehörige kamen, und blieben dann im Ruhestand in der Gegend. Russisch war nun die Amtssprache, Lettisch nur noch eine tolerierte Minderheitensprache. Jeder, der mehr sein wollte als Hilfsarbeiter musste russisch können, aber viele Immigranten sahen überhaupt keine Notwendigkeit Lettisch zu lernen. Noch immer tut sich Lettland mit diesem Erbe schwer. Lettischer Bürger wurde nur, wer schon vor 1940 in Lettland lebte, und deren Nachfahren. Viele im Land wurden lettische Nicht-Bürger, die Abgrenzung zu Staatenlosen ist kompliziert. Eine Einbürgerung ist möglich, auf internationalen Druck mehrfach vereinfacht, aber die größte Hürde bleibt: der Kandidat muss Lettisch können, und sich zu bestimmten Prinzipien bekennen, die im Gegensatz zu einem russisch geprägtem Geschichtsverständnis stehen. Noch immer gibt es über 200.00 Nicht-Bürger, über 10% der Bevölkerung.

Heute liegt der Anteil der russischen Minderheit bei 26%, und Ģirts meint, sie wären in sich stark gespalten. Eine Gruppe moderner, westlich orientierter die mit Putin sicher nix am Hut haben, sich in die Gesellschaft integriert haben, auch häufig gemischt geheiratet haben; und eine andere Gruppe, meist in größeren Städten, die in ihrer russischen Blase leben, und die lieber an die russische Propaganda glauben, als ihre gesamte vergangene Lebenswirklichkeit in Frage zu stellen.

Der Ukraine-Krieg hat darauf ein Schlaglicht geworfen. Die Balten fühlen sich zu Recht bedroht, und wollen das russische weiter zurückdrängen, und die Russen fühlen sich verfolgt und diskriminiert, wenn jetzt am Bahnhof das kyrillische вокзал abmontiert wird – doch nur ein Zeichen dafür, dass alle gegen die Russen sind. Tatsächlich sehen wir in Riga knapp mehr ukrainische Flaggen als lettische, und auch an anderen Ecken merkt man es deutlich. Auf einem Platz steht ein wahres Meer an ukrainischen Flaggen, vor dem Gebäude an der anderen Straßenseite stehen zwei Polizeiwagen. Wir gucken genauer hin – vor dem Gebäude weht die russische Fahne – wir haben wohl die Botschaft gefunden. An der Fassade des Museums um die Ecke hängt – der Botschaft zugewandt, ein riesiges Bild von Putin mit einem Totenkopf gemorpht. Da geht dem Botschafter sicher jedesmal das Herz auf, wenn er aus dem Fenster sieht. Er wird sich auch darüber freuen, dass im Frühjahr 2022 die für die Postadresse maßgebliche Antonijasstraße in „Straße der ukrainischen Unabhängigkeit“ umbenannt wurde. Als wir am Abend Uldis (der Wirt, der uns auf eine Reise durch interessant aromatisierte lettische Schnäpse nimmt) auf die ukrainische Flaggen ansprechen meint er ohne jeglichen Pathos „Die kämpfen für uns.“ Auch Ģirts war sich sicher: hätte es Lettland nicht in die EU und die NATO geschafft, dann wäre Putin jetzt in ihrem Land.

Jetzt steht hier noch nicht viel zu Riga selber – aber ich schreibe ja auch keinen klassischen Reiseführer. Die Stadt ist auf alle Fälle eine Reise wert, aber das haben wohl schon einige andere gemerkt. Eine hohe Kneipendichte, alles authentisch lettisch. Wir laufen vorbei an Clayton McNamara’s Drinking Emporium, dem Aussie Backpacker’s Pub, Easy Wine, Rock Cafe Riga, Paddy Whelan’s Irish Pub und dem Naughty Squirrel Hostel. Das Schild an einem Pub macht klar, woher der Wind weht: „No stag nights, no hen parties“. Die Daugava, der große Fluss an dem Riga liegt, wäre nicht nur für die Seestern schiffbar, offensichtlich passen da auch die ganz großen Kreuzfahrtschiffe durch. Die haben wohl die ganzen Amerikaner mitgebracht, die Touriführern hinterherlaufen. Aber andere sind auch individuell unterwegs, müssen sich selber um ihr Mittagessen kümmern: „No, Tom, we did not come all the way to Riga to eat at McDonalds“. Die Altstadt ist schön wieder hergerichtet, in der Albertstraße stehen dicht an dicht beeindruckende Jugendstilbauten. Frank hat in Erfahrung gebracht, dass steuerliches Zuckerbrot und Peitsche die Eigentümer verpflichtet, die Fassaden entsprechend zu renovieren. Offensichtlich nur die Fassaden, ein Blick in eine Hofeinfahrt lässt noch ordentlich Gammel und Verfall erkennen. Zwischendrin dann noch ein paar Reste aus der Sowjetzeit – auch hier steht ein Kulturpalast in stalinistischem Zuckerbäckerstil, hier ein paar Skulpturen mit heroischen Befreiern aus der Arbeiterklasse.

Stalinistischer Zuckerbäckerstil

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