Ģirts ist die Allzweckwaffe von Pāvilosta. Hafenmeister, Zeltplatzverwalter, Tourismus-Minister, Marketingmanager, Fremdenführer und alles was man sonst noch braucht. Tatsächlich ist Ģirts der Grund, warum wir überhaupt in Pāvilosta sind. Als wir im Januar auf der Boot in Düsseldorf waren, war dort ein Messestand der baltischen Staaten, und Ģirts rührte eifrig die Trommel für Pāvilosta. „Der beste Hafen in Lettland, gemütlich und modern, leise, und perfekt angebunden. Es lohnt sich gar nicht, mit dem Schiff nach Riga zu fahren, besser Ihr kommt zu mir, und macht dann einen Ausflug mit dem Bus.“ Was besseres ist uns tatsächlich nicht eingefallen, und Pāvilosta liegt günstig an der Westküste von Lettland, von Gotland aus die kürzeste Strecke. Per Mail hatten wir mit Ģirts einen Liegeplatz reserviert, und er reagiert prompt auf meine SMS – um 5:30 morgens.
Von Valleviken nach Pāvilosta sind es ungefähr 90 Seemeilen, bei fünf Knoten sind das 18 Stunden, aber oft kann man die fünf Knoten auch nicht halten. Also, selbst wenn wir gaaaanz früh aufstehen, ist es nicht garantiert, dass wir noch im Hellen ankommen (was schon fein ist, wenn man den Hafen gar nicht kennt). Dann also ganz anders – wir fahren nachmittags weg, sind die kurze Nacht mitten auf der Ostsee und kommen gemütlich am Morgen in Lettland an. Nachts auf dem offenen Meer ist weniger gruselig, als es sich anhört. Keine Felsen, keine Untiefen, nur ein paar große Schiffe, die man aber mit AIS, ggf. Radar und auch mit bloßem Auge ganz gut sieht. Damit’s etwas spannender wird, verfolgt man den Funkverkehr. Die NATO macht gerade ein Manöver, Schiffe werden gebeten, ihren Kurs zu ändern, ein paar sind auf AIS sichtbar („German Warship Bayern, F217“), andere fahren lieber ohne, aber immerhin gut beleuchtet. Zwischendrin funkt Frank die „Marschall Rukossosvki“ an, dass sie sich an die Regeln hält und uns Segelschiff ausweicht – es wird ihre Fahrt nach Indien schon nicht so lange verzögern.
Der Wind bläst böig bis zu 28 Knoten, aber von der Seite, und so machen wir gute Fahrt. Auch die Welle, die sich aufbaut, bremst uns weniger als gedacht. Zwischendrin mache ich mir schon fast Sorgen, dass wir doch noch vor Sonnenaufgang ankommen, aber so eifrig ist die Seestern am Ende nicht. Die Welle ist mehr geworden, direkt von der Seite schaukelt das Schiff fröhlich hin und her. Ob das ein Thema bei der Hafeneinfahrt sein könnte? Wenn’s blöd läuft, brechen sich die Wellen direkt in der Hafeneinfahrt, so was kann ungemütlich sein. Doch Ģirts beruhigt, schickt um 5:30 per SMS mit einem Webcam-Bild, alles gut. Tatsächlich wird die Welle näher am Land viel weniger, wieder umsonst gesorgt. Kurz vor sieben legen wir in schönster Morgensonne an, es gibt ein Anlegebier für Frank und mich (Doro ist eher nur froh, wieder an Land zu sein), und dann nochmal ein kleines Nickerchen. Frank und ich haben uns zwar abgelöst, aber gut schläft man auf einer solchen Überfahrt nicht, besonders wenn man noch nicht todmüde ist.
Ab Mittag erkunden wir ein wenig die Stadt, oder nennen wir Pāvilosta mal lieber nur „Gemeinde“. An einigen Ecken mondäner Ferienort, aber gegenüber vom Hafen steht verfallene Sowjetarchitektur, inklusive Überwachungstürme. Am Nachmittag kommt dann Ģirts persönlich zum Schiff. Ein gemütlicher, etwas rundlicher Mann mit Vollbart und einem ausgeleierten Pulli, aber unglaublich freundlich. Da wir unser Schiff ein paar Wochen alleine liegen lassen wollen, empfiehlt er uns einen anderen Liegeplatz, der ruhiger und sicherer wäre, dafür weiter von den Toiletten. Wo genau? Er zeigt es mir, wir fahren kurz mit seinem Auto hin. Als ich sitze, fragt er, ob ich etwas Zeit habe – klar. Super, dann gibt’s jetzt ’ne kleine Stadtrundfahrt, die ich hier abgekürzt auch mit Euch mache.
Pāvilosta wurde 1879 von dem deutschen Baron Otto von Lilienfeld als Hafen gegründet, und nach seinem Bruder Paul benannt. Übersetzt heißt es also Paulshafen. Der Baron baute eine Ziegelfabrik, die Ziegel wurden nach Liepāja und Klaipėda verschifft, damals noch Libau und Memel. Später verlagerte sich der Erwerb eher hin zu Fischern, und in der Sowjetzeit war die Stadt und der Hafen weitestgehend militärisches Sperrgebiet – die UdSSR hatte hier Funk und Radar, und natürlich musste aufgepasst werden, dass nicht allzu viele imperialistische Flüchtlinge illegal einreisen. Ģirts erzählt einiges über die Geschichte, was mich wirklich interessiert. Lettland wurde nie erobert, meint er, aber sehr häufig befreit, nicht immer ganz freiwillig. Die Gebäude gegenüber vom Hafen nennt er nur abfällig „Schandflecken aus der Sowjetzeit“, aber erklärt, dass hier gebaut wird wie blöd – viele Feriendomizile von wohlhabenden Menschen aus Riga. Dadurch seien die Immobilienpreise wahnsinnig gestiegen, die lokale Bevölkerung kann sich kaum noch etwas leisten. Das erklärt wohl auch die interessante Mischung an Automobilen – große Mengen von allem, was modern und richtig teuer ist, und dann noch die Gruppe der Autos, die wahrscheinlich vor 15 Jahren noch in Deutschland fuhren, und dann in der ‚kaufe jedes Auto‘ Verwertung gelandet sind. Ģirts wedelt in Richtung einer besonders opulenten Villa – der Kollege da hätte einen Hubschrauberlandeplatz gebaut, als kleine Entschädigung für den Krach hat er die Kinder der Stadt auf kurze Rundflüge eingeladen. Ģirts kennt alle und jeden, winkt Spaziergängern und Autos zu, und erzählt bei einigen deren Lebensgeschichte. Hier ist noch die alte Ziegelfabrik, die zwischendrin eine Brauerei war, und als Ruine nun der Mittelpunkt eines Festivalgeländes darstellt, hier ist das Kulturhaus, dort wohnt ein berühmter lettischer Sänger, praktisch wenn man mal Karten braucht – einfach fragen. Er fährt über die Brücke über den Saka und schimpft: „Diese blöde Brücke, wäre die nicht da, wäre der Fluss auch für Segelschiffe noch fünf Kilometer weit schiffbar, was man da an Infrastruktur machen könnte…“ Überhaupt ist in er in mancherlei Hinsicht mit den Stadtväter oder jedenfalls den Hafeneigentümern nicht glücklich – keine Ahnung haben die, schau Dir mal den Schwimmsteg da an, die drei Liegeplätze in der Ecke kann man für nichts brauchen, höchstens eine Gummiente kann man da parken! Auf der anderen Seite ist eine Werft, der Campingplatz, und das ehemalige Kasernengebiet der Sowjets; dort die Unterkünfte der Offiziere. Aber das hässlichste sei mittlerweile abgerissen, die Grundstücke unter die Leute gebracht, und auch hier entstehen Ferienhäuser, alle möglichst nah am Strand, was in früheren Zeiten die am wenigsten begehrte Lage war – zu kalt, zu nass, zu windig, zu viel Meeresrauschen – wer will das schon? Nach einer knappen Stunde zeigt er mir noch den Liegeplatz, es wären 200m zu Fuß gewesen.
einen Dank an Wastl für die Idee zur reimenden Überschrift