Der Tag vor Mittsommer

Der praktische Tipp vorab – man sollte schon am Tag VOR Mittsommer in dem Hafen der Wahl sein.

Das Mittsommer in Skandinavien ein ‚big deal‘ ist, das ist bekannt. Verschiedene schwedische Krimis spielen genau um die Zeit, Vivica Sten hat eine ganze (verfilmte) Krimiserie danach benannt. Man erwartet Volksfeste, Tanz der Jungfrauen um den Mittsommerbaum, große Partys. Als wir vor über 10 Jahren mal um die Zeit in Schweden ein Boot gechartet haben, wurden wir bitterlich enttäuscht. Am 21. Juni Abends hatten die meisten Kneipen zu, die Schweden feierten alle mit Freunden, und wir hatten keine Freunde. Wir aßen frustriert in einem billigen Griechen, der immer noch richtig teuer war.

Frank und ich haben das Ganze diesmal deshalb genauer im Blick. Seit Tagen fragen wir jeden, was denn der Plan wäre, wo man was erleben könne, usw. Scheinbar wird es in Finnland öffentlicher gefeiert, man empfiehlt uns mehr und mehr Inseln im Archipelago vor Turku wo bestimmt etwas los ist. Es hört sich nicht nach schwedischer Zurückhaltung an. „An Mittsommer, da werden alle ihre Schiffe nehmen, und auf die Inseln fahren“. Am Dienstagabend bekamen wir den Tipp, nach Brännskär zu fahren, aber am besten schon am Donnerstag, den 20.6., dort zu sein. Für den Mittwoch beschließen wir nach Högsåra zu fahren, eine Empfehlung aus Ingå. Am Donnerstagmorgen weht der Wind aus Nord-West, und wir müssten nach … Nord-West. Außerdem ist der Wind sehr unstetig, der Hafen von Brännskär wäre bei der Windrichtung ungeschützt; deshalb unruhig. Wir sind mittlerweile ganz schnell dabei, unsere Bootsnachbarn nach Tipps auszuquetschen. Hier in Högsåra wäre es auch ganz nett zu Mittsommer. Traditionelles Fest um 12:00, Party mit Live-Musik in der Hafenkneipe am Abend. Hmmm. Wir sind im Urlaub. Hmmm. Wir haben das Schiff nicht nur für eine Woche gechartert, müssen also nicht zwingend jeden Tag unsere Chartergebühr wegsegeln. Hmmm. Und hier liegen wir schon. Wir fragen den Marinero, ob wir noch zwei Nächte bleiben könnten. Kein Problem, aber bitte an einem anderen Platz (wir liegen mit dem Heck zum Ende des Stegs). Also verholen wir das Schiff einen Parkplatz weiter, finden Gefallen daran, was man einem solchen Hafentag alles erledigen könnte, und – ich zumindestens – mache nichts davon. Ein Nickerchen – das hatte ich geplant, aber der Rest fällt unter den Tisch. Mittlerweile drücken die Schiffe in den Hafen. Interessant ist die Spitze des Stegs. Hier liegt meistens ca. 20m vom Steg eine Boje im Wasser, die fischt man sich mit einer Leine am Heck, und der Bug wird am Steg festgemacht. Entlang des Stegs ist das einfach vorwärts einparken – die Breite der Schiffe bestimmt die Kapazität. Aber am Ende des Stegs, da können die Yachten sternförmig mit dem Bug anlegen (deswegen war’s auch blöd, dass wir dort mit dem Heck lagen). Am Ende hängen an dem 2m breiten Ende des Stegs fünf Segelboote.

Ich bin gerade von meinem Nickerchen erwacht (OK, vielleicht war es ein Nick, die Verniedlichung passt bei zwei Stunden nicht), und Frank trinkt schon ein Bier mit Tuomas vom Nachbarschiff. Ohne mich!?! Der Abend nimmt seinen Lauf. Die Besitzer der „Vayacondios“ gegenüber meint, dass die Leute zu Mittsommer ihre Boote mit Flaggen schmücken würden. Normal meinen sie wohl das Flaggenalphabet, welches viele Boote noch aus Nostalgiegründen an Bord haben. Aber wir – und das wollte ich schon lange mal machen – haben ja die ganzen Gastlandflaggen an Bord, wo wir mit der Seestern schon überall waren. Es ist auch ein guter Einstieg in ein Gespräch; wenn wir gefragt werden, woher wir kommen, antworten wir mittlerweile meistens mit Griechenland, weil das in Finnland schon weit weg ist, und somit interessanter als Hanko, Estland, oder Deutschland. Wir kommen auf 16 Flaggen, wobei da auch die bretonische dabei ist, die nicht ‚offiziell‘ ist. Der Besanmast reicht dafür nicht, jedenfalls nicht ohne die Dinger nah aneinander zu knüpfen.

Gegen 22:00 will ich nochmal die sanitären Einrichtungen nutzen, werde von der Bar abgelenkt, und sitze am Ende eine Stunde mit den Familien von Tuomas und Matti zusammen. Mattis Motorboot heißt „Granma“; deshalb frage ich ihn, ob er Fan von Kuba ist. Seine Frau versteht die Anspielung, und ich darf mich setzen („Granma“ ist der Name der Motoryacht, mit der Fidel Castro, Che Guevara und weitere 80 Revolutionäre 1956 aus dem mexikanischen Exil nach Kuba übersetzten, um dort die Revolution zu starten – hasta la victoria, siempre!) Während wir da sitzen, zeigt Mattis Frau auf eine Dame, die neben der Bar auf ein Motorboot steigt: „Das ist unsere Außenministerin“. Cool, irgendwie. Ist Finnland so familiär? Oder ist man irgendwie durch das Segeln in Kreise gerutscht, in denen dann halt auch Außenministerinnen verkehren? Ist die Bodenhaftung schon verloren gegangen? Mir ist klar, dass Segeln kein billiger Massensport ist, aber ich kenne einige Leute, deren Autos mehr gekostet haben als unser Schiff. Wenn ich so den Steg rauf- und runterschaue, sind wir eher Durchschnitt. Unser Schiff ist für die Ostsee groß, aber dafür auch alt, und man sieht auch genügend andere Bootseigner, die ölverschmiert und fluchend aus ihren Schiffen kommen. Eigentlich ist „Granma“ ein wundervoll subversiver Name an so einem Steg.

Als die Bar schließt, trinken wir mit unseren Nachbarn und deren drei Jungs noch einen Rotwein auf unserem Schiff. (also die ca. 10-13-jährigen Jungs bekommen keinen Wein, quittieren aber den Hinweis ihrer Eltern nach der Schlafenszeit mit „es ist Urlaub“).

Ich bin gespannt auf morgen.

Armut in Finnland – die exklusive Fotoreportage (Bild 5 wird Dich schockieren!)

Mal was kurzweiliges zwischendrin, auch wenn noch einige Berichte fehlen. Aufgenommen auf unseren Fahrt durch den Archipel von Helsinki bis Hankö. Die armen Finnen 🙁

Nur ein Liegestuhl am Privatanleger
Kein Geld um den Strand zu pflastern.
nur eine Yacht – und die nur mit einem Mast.
So viele Nebengebäude zu putzen

So, und hier das versprochene schockierende Bild. Nein, war nicht in Finnland, sondern Phnom Penh. Hinterlasst doch bitte in den Kommentaren, was Ihr von meinen Clickbait-Versuchen haltet, zB: „Super Chris, mit Clickbait gehst Du mit der Zeit und verhilfst mir zum gewohnten Internet-Erlebnis“, oder „Finde ich Scheiße, das Bild ist nicht schockierend genug“.

Der Weg vom Haupthaus zum Grillpavillion nicht mal überdacht
Proviantierung der Yacht mit einem Porsche Panamera – der mit dem schwachen Motor, OHNE Turbo
Ausrichtung nach Osten – keine Terasse für den Sundowner

Parallel sind noch einige Artikel in der Mache – watch this space!

Anny von Hamburg

Gleich bekommen wir Schimpfe. Wir stehen auf dem Fahrweg des Werftkrans zwischen diversem Eisenschrott, und wissen, dass wir dort eigentlich nicht sein dürfen. Ich noch dazu in FlipFlops, wo wahrscheinlich Helmpflicht herrscht, und Sicherheitsschuhe gefordert wären. Aber das äußere Trockendock ist nicht mehr trocken, sondern wird geflutet, schon spannend. Es springen diverse Leute umher, und einer kommt auf uns zu; wir bereiten uns schon auf Schelte und Gegenausrede vor. Aber der ältere Herr in T-Shirt und Shorts begrüßt uns freundlich, woher wir kommen? Er erzählt ein wenig von dem weißen Schiff im Trockendock, was nun langsam wieder anfängt zu schwimmen. Es stellt sich heraus, dass er Juha heißt, und der Eigentümer ist, und meint, dass zwei der Helfer auf dem Schiff auch aus Deutschland sind. Kommt mit! Wir laufen über das Schleusentor zwischen den beiden Docks auf die bewaldete Seite. Dort wurden die diversen Spanngurte gelöst, mit denen die Masten an den Bäumen befestigt waren. Der Kollege im weißen Hemd ist Till. Er stellt fest, dass das Schiff noch an einem Baustromverteiler hängt, wir dürfen es ausstecken und das Kabel rüberreichen. Juha erklärt, dass sie das Schiff auf die andere Seite des dann gefluteten Docks fahren werden, um noch ein paar Ausrüstungsteile an Bord zu bringen. Während wir uns noch fragen, wie sie den Dreimaster dort rüber bekommen wollen, machen die Helfer die Leinen los, und ein anderer Helfer zieht an der Wäscheleine, die sie über das Becken gespannt haben. Einer der treidelnden Helfer hat auch nur Crocs an, da fühle ich mich gar nicht so underdressed.

Juha hat uns noch angeboten, dass wir das Schiff ansehen; Till wird uns führen. Wir machen aus, dass wir später wiederkommen, wenn der Stress hier vorbei ist. Am Rande des Docks laufen ein paar rostige Wasserleitungen, an denen binden sie die Anny fest, die Vorleine wird an einer Geländerstütze festgemacht.

Die Anny von Hamburg ist nicht das einzige historische Schiff hier auf der Insel, aber es nähert sich seiner Vollendung. Am Nachmittag schauen wir tatsächlich vorbei, und Till und seine Freundin Nino zeigen uns das Schiff. In den ehemaligen Laderäumen sind 10 stattliche Kabinen, und auch der Salon lässt sich sehen (wird sich sehen lassen, wenn die diversen Kisten mit Werkzeug und Ersatzteilen weggeräumt sind). Till hat ein paar Semester Informatik studiert, aber bei gutem Wetter hat er keine Lust, am Rechner zu sitzen. Er ist auch in einem deutschen Verein zur Erhaltung eines historischen Schiffs aktiv, der „Windbraut zu Stade“, und wurde von Juha angeheuert, um sich bei der Anni um das Rigging zu kümmern. Juha erzählt, dass die Vorschriften in Finnland für den Umgang mit solchen Hobbies sehr entspannt sind, Till nickt zustimmend. Tatsächlich sieht man Sicherheitsvorschriften nicht so eng; Juha meint, es ist hier der ‚Wilde Westen‘.  Manches scheint sogar Till nicht ganz geheuer – auf die prekäre Situation mit den Festmachern angesprochen, meint er, dass aus seiner Sicht das Stromkabel auch gewertet werden müsse – es sei schließlich recht dick.

Wir laden Nino und Till noch auf ein Bier auf unser Schiff ein, aber sie können nicht zu lange bleiben – so much work to do.

Festungshaft in Helsinki

Unter Entsetzensschreien kippt der Mast um und fällt mit einem hohlen Aluminium-Scheppern auf das Nebenboot und rutscht dann halb ins Wasser. Eine blonde Finnin, die versucht hat, den Mast aufrecht zu halten, kämpft bis zum Schluss und wird dafür mit einem kühlen Bad im Hafen von Suomenlinna belohnt. Die Szene findet am ‚Ausrüstungspier‘ des Segelclubs gegenüber statt, sechs Leute helfen mit, da kann so einen Mast auch nur mit Muskelkraft stellen, oder? Offensichtlich nicht. Der Mast der kleinen Jolle ist zwar leicht genug, dass ihn zwei Leute tragen können, aber ihn auf einem wackeligen Boot aufzustellen, das ist wohl komplizierter. Im Ohr höre ich meinen Nachbarn Wastl: „Wenn es doch nur irgendein Gerät gäbe, was bei so etwas helfen könnte…“ Ihr ahnt es: das Gerät gibt es. An der Ausrüstungspier steht auch ein Mastkran (sieht aus wie eine sehr stabile freistehende Leiter, von der oben ein Drahtseil hängt, welches von unten mit einer quietschenden Winde gekurbelt werden kann). Offensichtlich ist der Mastkran nur für Weicheier, und diese Quietschen nervt. Während die Finnin ihren Pulli auswringt wird der Mast aus dem Wasser geborgen, die verschiedenen Leinen gerichtet, und er doch an den Mastkran gehängt. Hafenkino der anderen Art.

Mast stellen

Suomenlinna, das ist die Festung im Hafen von Helsinki und unser heutiger Schlafplatz. https://de.wikipedia.org/wiki/Suomenlinna . Den Tipp haben wir von Tero bekommen, den wir gestern im Hafen von Ingå bzw. Inkoo getroffen haben. Wir fragten den Helsinkianer Tero nach seiner Empfehlung für eine Marina in Helsinki, denn auf Google Maps finden sich mehrere. Suomenlinna ist eigentlich auf einigen vorgelagerten Inseln gebaut, theoretisch also unpraktisch für einen Bummel durch die Stadt, aber „eines der beliebtesten Ausflugziele der Stadt“, und nur mit dem Schiff zu erreichen (ja, auch mit den Fähren, die alle 15 Minuten fahren sollen). Wir räsonieren – wir werden noch öfters durch Helsinki kommen, auf dem Weg von/zum Flughafen – vielleicht ergibt sich da mal Zeit für etwas Sightseeing, und dann mit der Fähre zur Festung? Das macht doch auch keinen Sinn. Also endet die erste Hälfte unserer ersten finnischen Woche. Es ist Montagabend. Wie üblich kommt nun die Rückblende – wie kamen wir hierher?

Am Samstag kommen wir Abends in Jussarö an, es liegen ein paar anderen Schiffe im Hafen, aber wir haben viel Platz um längsseits an den Steg zu gehen. Der Hafen ist noch nicht betreut – Vorsaison. Wir fragen andere Gäste, wie das jetzt läuft – Man könne wohl etwas irgendwohin überweisen. Auf meiner Erkundung des Hafens sehe ich einige Hinweistafeln, die auf Finnisch und Schwedisch über irgendwas Auskunft geben. Englisch? Fehlanzeige. Aber ich sehe auch keine IBAN, keinen Eurobetrag. Stellt Euch an dieser Stelle ein Achselzucken vor. Jussarö ist eine kleine Insel, vor langen Jahren gab es hier ein Bergwerk, danach eine militärische Beobachtungsstation, heute ist die Hälfte Naturschutzgebiet und die andere Seite Naherholungsgebiet. Very nice. Im Bereich des Hafens stehen zwei verrostete, nicht angemeldete Autos, man erkennt, wo mit Beginn der Saison vielleicht ein Café und der Hafenmeister wohnen würde, und dann noch ein Plumpsklo im Wald. Es gibt Nudeln mit Pesto.

Am nächsten Tag wagen wir uns in den Schärengarten, wollen nach Barösund oder Ingå. Auf der Karte sieht der Schärengarten gefährlich aus – da wird die Navigation sicher total die Herausforderung. Puh. Es ist einfacher. Überall stehen Kardinalzeichen und Lateraltonnen, sie bezeichnen deutlich einige Fahrwasser durch die tausenden von Inseln und Felsen. Mit Wind von hinten fahren wir durch den Barösund.

Die. Schärenlandschaft. Ist. Traumhaft.

Gut, eigentlich sind es halt immer wieder steinige, bewaldete Inseln. Auf jedem steht mindestens ein Ferienhaus mit eigenem Anleger. Das ist weniger elitär als man meinen sollte – Straßen machen auf einer Insel mit einem Achtel Quadratkilometer halt keinen Sinn – man kommt also mit dem Boot zum Ferienhaus. Ein Geologe könnte den Barösund sicher erklären, irgendeine Falte in der Erdoberfläche, die nun eine relativ gerade und enge Trennung zwischen Inselbereichen bietet, überall tief genug für unser Schiff. Kurz überlegen wir, in dem Hafen von Barösund-City zu bleiben, aber Ingå bleibt interessanter. Wir suchen ja auch einen preiswerten Hafen, um die Seestern drei Wochen liegen zu lassen, und am besten mit vernünftiger Verkehrsanbindung zum Flughafen Helsinki. Ingå wäre da gar nicht falsch.

Der Hafen von Ingå ist laut Beschreibung 2,40m tief; „technical depth 3m“. Wahrscheinlich soll das bedeuten, dass er regelmäßig auf 3m ausgebaggert wird, um immer 2,40m zu gewährleisten. Wir tuckern in den Hafen – wo sollen wir nur anlegen? Bei der ersten Schleife benimmt sich die Seestern seltsam, reagiert nicht auf’s Steuer. Ein kurzer Blick auf den Tiefenmesser: 1,70m – OK, wir hängen im Schlick. Schnell Rückwärtsgang, wir kommen frei, und probieren es auf der anderen Seite vom Steg. Auch hier kommt die Seestern nicht ganz in die geplante Parkposition. Wieder zeigt der Tiefenmesser 1,70m. Auch egal – wir bleiben mit der Nase zwei Meter vom Steg entfernt, können über einen Finger an der Seite aussteigen. Von wegen 2,40m.

[kurz der technische Einschub: Die Seestern hat laut offiziellen Daten einen Tiefgang von 2,10m. Ob das mit allen Einbauten und mitgeführtem Bier auch stimmt? Gemessen wir das mit Ultraschall kurz vor dem Kiel, und in dem entsprechenden Instrument wird dann noch der Abstand vom Ultraschallgeber zur Wasseroberfläche eingerechnet. Eigentlich haben wir das mal versucht genau einzustellen, aber… Außerdem kann es natürlich bei Schlick oder zB Seegras sein, dass dieses den Ultraschall zurückwirft, aber man noch durchpflügen kann. Manchmal erschreckt uns auch ein Fisch, der unter dem Tiefenmesser durchschwimmt.]

Es ist schon 21:00, es findet sich kein Hafenmeister mehr. Auch hier – Hinweisschilder auf Finnisch und Schwedisch, das war’s. Wir fragen uns durch – das Café dort übernimmt aktuell das Kassieren der Gebühren. Es macht morgen um 10:00 wieder auf. Wir unterhalten uns mit unserem Nachbarn Tero – ihm haben sie 25€ für die Übernachtung abgeknöpft, der volle Preis obwohl wegen der Vorsaison weder Toiletten noch Duschen aufhaben. Wir planen den nächsten Tag. Wenn wir früh aufbrechen, dann schaffen wir es bis Helsinki. Echt schade, dass wir dann keine Hafengebühr zahlen können.

So brechen wir am Montag um neun auf, folgen einem Fahrwasser nach Helsinki, und das ganze unter Segel – zwar nur Leichtwindsegel, aber wir sind ja nicht auf der Flucht. Es geht durch unzählige Inseln. Erwähnte ich schon, dass mir die Schären gefallen? Um 16:00 legen wir in Suomenlinna an.

Wie Ihr mittlerweile sicher auf Wikipedia nachgelesen habt, wurde Suomenlinna im 18. Jahrhundert erstmals von den Schweden befestigt, die es natürlich nicht Suomenlinna (Finnen-Festung) nannten, sondern Sveaborg (Wer hat es erraten? Schwedenburg). Noch heute heißt die Anlage auf Schwedisch (2. Amtsprache in Finnland) Sveaborg. Also vollzieht sich mit der Übersetzung auch gleich ein Besitzerwechsel. Das finde ich total witzig, bis mir auffällt, dass es bei Südtirol eigentlich auch so ist. Bis 1973 wurde die Inselgruppe vorwiegend militärisch genutzt, jetzt hat es eine interessante Mischnutzung. Es wohnen dort einige Leute, es hat ein Gefängnis, viel Tourismus mit Läden und Museen, einem U-Boot und Raum für Kultur und Kulturpflege. Denkt dabei an den Kunstpark Ost – leerstehende Industriegebäude werden zB preiswert an Vereine zur Erhaltung von historischen Schiffen vergeben, die in den ehemalig militärischen Trockendocks liebevoll ihre Wracks pflegen. Dadurch gibt es auch Ecken, die eher an Schrottplatz erinnern. Es gefällt uns dort ganz gut, wir bleiben am Ende zwei Nächte, ohne jemals die Fähre nach Helsinki Downtown zu bemühen.

Goodbye Estonia, Hello Finland!

Der Wind bläst aus Ost-Nordost. Alle Segel sind gesetzt, und wir fahren nach Norden. Hinter uns schwindet Estland langsam am Horizont. Auf nach Finnland. Unser ursprünglicher Plan war es, von Kärdla nach Tallinn zu fahren, und von dort aus nach Helsinki überzusetzten, dabei hätten wir evtl. noch einen Gast an Bord gehabt. Gast kam nicht, Wind war ungünstig, also fällt Tallinn aus, und Helsinki machen wir irgendwie anders.

Aber vielleicht nochmal der Reihe nach. Mittwoch um acht kamen tatsächlich die Segel, Boris zieht unsere Wanten und Stage auf die richtige Spannung an, und ein Elektriker schließt die verschiedenen Kabel, die aus dem Mast kommen, an. Ich helfe beim Segelanschlagen mit, aber ich glaube ich werde eher geduldet, als dass man sich über die Hilfe freut. Kurz vor zehn ist das Schiff fertig, ein Kollege von ihm wäscht es noch kurz, und ich gehe in mein Remote-Office. Für Donnerstag ist am Vormittag etwas Arbeit mit Calls angesagt, und mittags miete ich mir ein Auto, um die Insel zu erkunden. Man ist wirklich entspannt hier. Die Anmietung besteht daraus, dass der Werkstattinhaber meinen Führerschein mit dem Handy fotografiert, mir 30€ in bar abnimmt, und auf einen Honda irgendwas auf dem Hof zeigt: „Schlüssel steckt“. Ich habe mich akribisch auf die Sightseeingtour vorbereitet: https://hiiumaa.ee/de/sehenswuerdigkeit/ , und mir zwei Leuchttürme ausgeguckt. Dabei kommt man etwas rum, und bekommt sicher ein Gefühl für die Insel. Das Gefühl, es erweist sich zwischen Entschleunigung und begrabenem Hund. Die Sehenswürdigkeiten Website hat recht: man kann „denken oder nicht denken – modern ausgedrückt – meditieren“. An der Nordwestspitze steht der Leuchtturm Tahkuna, 1871 von Russland auf der Weltausstellung in Paris gekauft, bestehend aus vorgefertigten gusseisernen Elementen. Auf dem Weg dorthin ein paar Bunker einer sowjetischen Küsten-Artilleriebatterie, die mittlerweile fast vollständig im Wald eingewachsen sind. Den Leuchtturm darf man für eine Gebühr von 4€ erklimmen, die Ticketverkäuferin ist eine klare Kandidatin für den ’stressigsten Job von Hiiumaa‘. Geschätzt alle 30 Minuten kommt einer oder mehrere Touristen, kaufen ein Ticket, und die Verkäuferin kann weiter mit ihrem Handy spielen. Ich erklimme den 42m hohen Turm, bin allein. Wahnsinnig viel zu sehen gibt es nicht. Auf einer Seite Meer, auf der anderen Wald. Dazwischen etwas Strand. Das war’s. Es gibt noch ein Denkmal für die „Kinder als Opfer der Estonia Katastrophe“. Dann fahre ich weiter, zum Leuchtturm Kõpu. Er steht auf dem höchsten Berg von Hiiumaa (68m), und ist architektonisch an eine Pyramide angelegt. Tatsächlich blickt der Turm auf eine fast 500-jährige Geschichte zurück, es ist der drittälteste Leuchtturm der Welt, der noch steht. Anfangs war es gar kein Leuchtturm, sondern nur ein Turm der als Landmarke diente. Da ich auf dem Weg dorthin nichts anderes als Wald gesehen habe, spare ich mir diesmal den Rundumblick und stromre einfach etwas darum umher. Ich fahre zurück nach Kärdla, und kaufe schon einmal 50 Liter Bier in Dosen. Danach zum Flughafen, Frank abholen. Frank fliegt ja auch mit Anonymous Airlines, hat eine Stunde Verspätung weil das blöde Flugzeug nicht anspringt, aber zwei Stunden später sitzen wir beim Griechen und trinken einen Ouzo.

Panorama vom Tahkuna Leuchtturm

Eigentlich wollen wir den Freitag ganz ruhig angehen lassen – wir haben ja Urlaub, und müssen nicht heute fahren. Wir organisieren von der Werft noch eine Putzkraft, die unser Schiff mal durchsaugt und wischt, und Frank fährt einkaufen. Aus Angst vor finnischen Bierpreisen bunkern wir hier in Estland nochmal ordentlich Bier, die Kassierin staunt nicht schlecht, als Frank mit dem dritten Einkaufswagen (sie waren aber auch wirklich klein) voller Bier durch die Kasse fährt. Beim Mittagessen prüfen wir nochmal die Windvorhersage – oh Schreck. Heute Nachmittag steht der Wind noch günstig, um ans estnische Festland zu fahren, morgen kommt der Wind eher aus Ost. Plötzlich werden wir hektisch. Zum Schiff fahren, Klappfahrrad einladen, Mietwagen tanken und abgeben, mit Klapprad wieder zum Schiff, Leinen los – die Reise beginnt. Etappenziel ist Dirhami – das dritte Mal für uns in diesem Hafen. Der Wind ist nicht besonders stark, deshalb kommen wir diesmal zu spät für das Fischrestaurant.

Am nächsten Morgen werfen wir den Plan mit Tallinn über den Haufen – der Wind ist echt ungünstig um nach Osten zu segeln, aber nach Finnland – dazu ist er ideal. Na gut, dann fahren wir eben an der finnischen Küste nach Helsinki, und danach wieder zurück. Von einer finnischen Yacht im Hafen lassen wir uns ein paar Tipps geben, was ein guter erster Hafen nach der Überfahrt wäre (Optionen, von West nach Ost: Hangö, Byxholmen und Jussarö), und los geht’s. Um 19:00 legen wir bei bestem Wetter in Jussarö an, Willkommen in Finnland.

Alles Amateure, die Profis

Marko ist unser Ansprechpartner für die Bootsüberwinterung. Man muss etwas wortklauberisch sein, dabei – man kann ihn wirklich ansprechen. Wieder und wieder. Manchmal antwortet er. Seltener, als man ihn anspricht. Vor dem Beginn der Saison hatten wir folgenden … Dialog: (? – Gibt’s dafür einen speziellen Begriff, zwischen Monolog und Dialog? So 1,5-a-log?). Wir wollten wissen, wie denn die Planungen wären, wann das Boot ins Wasser kommt, usw. Irgendwann hörten wir auf zu fragen; forderten: „Wir wollen am 18.5. vor Kärdla aus losfahren – please make it happen“. Die Antwort darauf: ein gelber Daumen hoch. Wunsch registriert, oder ‚Verlass Dich drauf‘ – wer will das schon so genau wissen? Irgendwann kam noch eine Nachricht „We will probably launch the boat on 15.05 {Mittwoch} and the masts the next day“. Der ursprüngliche Plan war es, am Donnerstag nach Estland zu fliegen, aber ich bin ja flexibel. Flug nach Tallinn am Montag, am Dienstag noch Zeit mit Unwägbarkeiten nach Kärdla zu kommen, am Mittwoch früh noch das Unterwasserschiff inspizieren und eine Opferanode anzubringen, und dann kann’s losgehen. (Opferanode – das gibt’s wirklich. Ein Klumpen preiswertes und elektrochemisch unedles Material ‚opfert‘ sich, dass es selber wegrostet und nicht der teure Messing-Propeller). Geplant, gebucht, mit dem Bus sollte ich sogar am Montag um 21:00 da sein – wenn alles klappt.

Montag früh mit Air Baltic nach Riga, weiter nach Tallinn. Alles pünktlich (is man ja nimmer gewohnt, von der Bahn). Am Flughafen in Tallinn schaue ich noch nach dem ’sagenumwobenen‘ Flug, der direkt nach Kärdla gehen soll. Google findet ihn nicht als regulärer Flug, und wenn man googelt, kommen ein paar Pressemeldungen, und eine Meldung, dass der Flug von Air Jamaica angeboten wird. Diese Pressemeldung spricht von 25€ für den Flug. Punkt. Ich versuche es am Ticketschalter im Flughafen: „But of course, sir. Yes, 25€. Yes, it leaves in 2 hours. Yes, there’s space for you.“ Ich lasse die 13€ Busfahrt verfallen und buche den Flug. Der Ticketagent meint noch, dass es nur 15kg Freigepäck hat, und meine zusätzlichen Kilos (Gepäck, nicht ich!) je 3€ kosten, aber davon weiß die Frau am Schalter nichts, oder es ist ihr wurscht. Wir fahren mit dem Bus an die hinterste Ecke des Flughafens, wo eine zweimotorige Turboprop Saab 340 auf uns wartet. Dem grundsätzlichen Hang zur Geheimniskrämerei folgend ist die Maschine weiß lackiert, und trägt kein Airline-Logo. Auf den ersten Blick sieht die Maschine etwas mitgenommen aus, auf den zweiten sogar ziemlich mitgenommen. Aber mei, eine Flugbegleitende und ein Pilotierender trauen der Maschine auch. Wir rollen zur Startbahn, die Motoren dröhnen, meine Uhr meint „Gefährliche Lautstärke erkannt – zu lange in dieser Umgebung kann Ihren Ohren schaden“. Aber 25 Minuten später landen meine 8 Mitpassagiere und ich auf dem Kärdla Metropolitan Airport. Als erfahrener Flugreisender halte ich Ausschau nach dem Baggage Claim, bis ich bemerke dass meine Tasche – und nur meine Tasche – auf kleinem Leiterwagen von der Ground-Handling Crew hinter mir zum gleichen Gebäude gefahren wird. Als ich anbiete, die Tasche selber zu nehmen, werde ich auf das Terminal-Gebäude verwiesen. Ordnung muss sein. Am Parkplatz steht ein Bus, der mich als einzigen Passagier für 2€ zum Hafen fährt. Unterwegs habe ich noch eine Unterkunft gebucht – als wir im September das Schiff hier abgaben, gab es ein paar schicke Bungalow-Container direkt am Hafen.

Im Hafen sieht’s dann anders aus. Die Bungalows sind offensichtlich für den Winter weiter nach Süden gezogen, und noch nicht wiedergekommen. Dafür sehe ich ein mir bekanntes Schiff im Hafen dümpeln. WTF? Noch während der Reise hatte mich ein Mail von Marko erreicht, ‚probably on Tuesday‘, und jetzt ist Montagabend, und die Seestern schwimmt. Damit hat sich der erste Grund für meine verfrühte Anreise erledigt.

Aber egal, erstmal Unterkunft finden. Im Hafengebäude gibt es ein Ferienwohnung, Zugang per Schlüsselkasten. Hm, 6290 hilft nicht. Vielleicht wo anders? Ich irre ein wenig um das Gelände, rufe schließlich beim Wirt (=Hafenmeister) an. Der PIN für den Schlüsselkasten? Ja klar, 2023. Ich Dummerchen, das hätte ich ahnen müssen, dass die PIN in der Mail nur zur Tarnung diente. Noch schnell etwas arbeiten (habe die frühere Abreise mit dem Versprechen erlangt, auch von Estland aus zu arbeiten), und dann ab in die Stadt. Auf dem Weg zu einem mir bekannten Lokal erkenne ich ein griechisches Lokal. Sieht zwar geschlossen aus, aber nein – die Türe lässt sich öffnen; „Kali Spera!“ Haben sogar griechisches Bier, passend zu unserem Schiff, bzw. dessen Kaufort. Weil der Wirt etwas bei meiner Bestellung verbaselt, bekomme ich noch ein Bier mit auf den Weg.

Am Dienstagmorgen schnappe ich mir die in Deutschland noch gekaufte Opferanode und gehe zur Werft. Dort drücke ich mein Überraschen über das schwimmende Schiff aus, und halte zur Untermauerung die Anode anklagend hoch. „Oh, don’t worry, the old was finished, so Boris installed a new one“. Den Wahrheitsgehalt zu überprüfen bräuchte jetzt einen Tauchgang in der eiskalten Ostsee – wird schon stimmen, doppelschwör. Ich frage auch nach dem fehlenden Niedergangschott (für Landratten: Haustür vom Schiff), und bekomme ein frisch geschliffenes Schott vorgelegt. Es ist unlackiert, weil ‚wir nicht Bescheid gesagt hätten, ob wir es lackiert, geölt, oder Natur haben wollen‘. Das ist halb richtig. Eigentlich hatten wir nur um ein ANGEBOT gebeten, was es denn kosten WÜRDE, unseren Cockpittisch und Niedergang etwas hübscher zu machen. Das Angebot kam nie, die Arbeiten sind jetzt halt ausgeführt. Welches mich zum Titel bringt. Die Arbeiter auf der Werft sind durchaus schnell, freundlich und wirken kompetent. Aber das ganze Management… Ein paar Beispiele:

  • Wir hatten letzten Sommer eine Grundberührung. Nichts tragisches, laut Werft „a few scratches“. Foto davon? Wie, traut Ihr uns nicht? Don’t worry.
  • Sollte man das gekratzte Antifouling dort ausbessern? Die Werft bietet ein völlig anderes Produkt, als unser teuer in Griechenland aufgebrachtes Coppercoat. Gibt’s in Estland kein Coppercoat? Keine Ahnung, was nun passiert ist.
  • Bitte Angebot für Motor-Service, Getriebeölwechsel. Ach, das haben wir schon gemacht.
  • Verhandlungen über ein neues Süllbord (Holzleiste unter der Reling) ziehen sich so lange hin, bis unsere Anfrage mit ‚dieses Jahr klappt es eh nicht mehr‘ beschieden wird.

Whatever, wenn wirklich alles getan wurde, was so für ein Boot getan werden muss (Opferanode, Ölwechsel), dann ist’s ja wohl auch OK. Bin gespannt auf die Rechnung. Ich frage Boris, wie es jetzt weiter geht. Er meint, um 15:00 kommt der Kran, der die Masten auf’s Schiff bringt, bis dahin könnte ich das Schiff von der Nordseite des Hafens bis zur Südpier bringen. Gut meine ich, gehe in meine FeWo, und arbeite noch etwas. Eine halbe Stunde später geht Boris zu unserem Schiff, Brumm, und parkt um. Ach, wisst Ihr was, macht doch einfach.

Mir kommt wieder in Sinn, was Frank (der evtl. von einem Freund zitiert) immer sagt: „Man hat das Gefühl, das viele der Leute, die im Umfeld der Hobby-Schifffahrt ihr Geld verdienen, es trotzdem eher als Hobby betreiben“. Da gibt es Gästehäfen, bei denen unsere Anfrage unbeachtet im SPAM verschwindet. Angebote scheinen eher was für Spießer zu sein. „Auf Lager“ bedeutet nicht, dass es bald versendet wird. Noch immer warten wir auf eine Rückmeldung von der Firma, die uns mit digitalen Karten versorgen will. Ein Trauerspiel.

Um 15:00 kommt tatsächlich der Kran, in 40 Minuten stehen beide Masten auf dem Schiff – noch nicht ausgerichtet und unter Spannung, aber drauf auf der Seestern. Noch während ich mein Handy einsammle, welches ein Zeitraffer-Video machen sollte, legt Boris mit der Seestern ab und fährt an einen anderen Steg. Ich komme mir richtig nützlich vor. Offensichtlich bekommt noch ein anderes Schiff seinen Mast, und der Kran scheint pro Stunde richtig teuer zu sein. Boris braucht immerhin zwei Anläufe, um die Seestern an den Steg zu bringen (Mit Backbord anlegen ist auch nicht die Schokoseite), und ich nehme ihm eine Leine ab. Sobald das Schiff so halbwegs am Steg liegt (ich habe die Leine noch in der Hand), meint er: „I’ll leave you to take care of the lines“, und eilt zum anderen Schiff. Puh, der Kran muss wirklich teuer sein. Morgen früh kommen die Segel, die richtige Spannung auf die Wanten, usw…

Frank konnte nicht vor Donnerstag fliegen; ich habe also drei Tage Vorsprung. Ich überlege, hier auf Hiiumaa ein Auto zu mieten, oder zumindest ein Fahrrad. Das Fahrrad kostet 20 € am Tag. Noch während ich überlege, fällt mir ein, dass wir ja ein Bordfahrrad haben, welches ich auch nach einem ersten Schreck in der Backskiste finde. Stimmt, da hatten wir ja ein Platz dafür gefunden, zuvor lag es immer am Fußende meiner Koje. Mit dem Rad fahre ich am Abend in die Stadt. Ja, Stadt. Kärdla (dt: Kertel) ist die größte und auch einzige Stadt auf der Insel Hiiumaa. Es gibt sogar ZWEI Supermärkte, in einem kaufen ich mir ein paar Getränke. Es werden auf Google auch immer wieder Restaurants angezeigt. Man geht dann dahin, und denkt sich: „Oh, heute geschlossen“. Stimmt aber nicht unbedingt. Hier müsste eine Kneipe sein. Sieht zu aus. Vielleicht da oben, im ersten Stock, von der Außentreppe aus? Ich glaub’s ja nicht, gehe mal hoch, wenn ich schon da bin. Tatsächlich. Hier ist ’ne Kneipe. Die hat auf. Gut, ist nur ein Gast drin, und der geht auch bald. Danach gibt es hier ein Personal zu Gast Verhältnis von 2:1. Vielleicht liegt es an meinem Nicht-Beherrschen der estnischen Sprache. Vielleicht bedeutet „SISSEPÄÄS II KORRUS“ ja: ‚Kommt rein, sieht zwar geschlossen aus, aber nein, hier steppt der Bär’*. To be fair, während ich sitze, werden noch zwei weitere Tische besetzt, wahrscheinlich von Leuten, die SISSEPÄÄS II KORRUS verstehen.

Ich radle heim, und schreibe diesen Blog auf meiner Terrasse mit Blick auf den Sonnenuntergang, ein Bild welches ich aber vor habe, als ‚Remote Office Working‘ zu verkaufen.

*Ich hab’s geprüft, das wäre „Tuleb sisse, tundub suletud, aga ei, karu tantsib siin“

Fazit Estland und Helsinki

394,1 Seemeilen

Der Euro hat auch Nachteile. Eine Halbe Bier: 12,50€. Ein Teller Spaghetti Carbonara: 19,90€. Wir schlucken ganz schön – am Flughafen in Helsinki. Wäre das alles in einer Fremdwährung könnte man sich einreden, dass man den Wechselkurs nicht richtig gelesen hat, oder es halt einfach ignorieren. In Vietnam hat es mich ja auch nicht gestört, fünfzigtausend für ein Bier zu zahlen. Knappe drei Stunden Aufenthalt bevor der Anschlussflug nach München geht. Das Bier werde ich jetzt mal gaaaanz langsam trinken. Heute ist Samstag, und offizieller Heimreisetag. Flug von Tallinn nach München über Helsinki. Witzig der Flug mit dem kleinen Hupfer von Tallinn nach Helsinki. „Dear Passengers, this is Tomas, your pilot speaking. Welcome on board of our ATR 72-500 aircraft. We have just departed from Talinn airport in a northerly direction and are currently climbing to… oh no, sorry, we’re descending again. Cabin crew, prepare for arrival.“

Gestern hat es eigentlich sehr gut angefangen. Früh aufgestanden, fix die ganzen Klamotten eingepackt, um 9:15 kommt Boris, und fängt an, die Leinen an unserem Schiff zurechtzulegen. Am Ende der Rampe wartet der Radlader mit dem „Roodberg“, ein massiver, gelber, hydraulikbetriebener Slipwagen, mit dem sie die Seestern aus dem Wasser ziehen werden. Das ist neu für uns – bislang war es immer ein Kran mit Schlaufen, der uns aus dem Wasser gehoben hat. Wir bitten noch um drei Minuten, um unser Gepäck zu entladen (das geht leichter auf den Steg, als dann von dem aufgebockten Schiff). Hiller brüllt etwas vom Radlader, und Boris geht mit ihm konferieren: „you have some minutes, still“ meint er. Die Konferenz dauert etwas länger. Dann kommt er wieder. „The bad news: we can’t take your ship out of the water right now, there is a problem with the hydraulic pressure. The good news: the problem didn’t develop while we were taking your ship out.“ Immer diese Ausreden, denke ich mir, und mache mich auf den Weg zu den Hafen-Waschmaschinen. Dabei komme ich an dem gelben Radlader vorbei. Darunter ist ein riesengroße Ölpfütze. Doch keine Ausrede. Ich bin mir nicht sicher, ob die Bremsen bei dem Ding am gleichen Hydraulik-Kreis hängen, aber das wäre tatsächlich ein Spaß gewesen, wenn die versagt hätten, während die Seestern auf der Slip-Rampe gewesen wäre. Doch keine Ausrede. Aber der Plan für den Tag hat ein Loch. Keine Inspektion des Schadens am Kiel von dem kleinen Aufsetzer, kein detailliertes Besprechen der notwendigen Arbeiten. Damit bleibt nicht mehr so viel zu tun, bevor unser Bus um 16:45 ab Kärdla geht. Genaueres aussortieren der Lebensmittel auf dem Schiff (ungeöffnet mit Verfallsdatum ab Frühjahr ’24 darf bleiben, den Rest nehmen wir mit), ich muss mich immer wieder Franks Versuchen, jetzt noch diese oder jene Ecke aufzuräumen, erwehren. Boris hat sich zwischendrin gemeldet. Der Schade ist erkannt, eine kaputte Dichtung, leicht reparabel – mit einem Ersatzteil aus Tallinn. Dann doch noch ein kleines Nickerchen.

Mit viel Puffer laufen wir zum Bus, der fährt zu der und auf die Fähre nach Heltermaa, eine gute Stunde Überfahrt nach Rucola. Die Fähre ist nach „Leiger“ benannt, der Riese von Hiiumaa, und Bruder von Tõll, der die gleiche Funktion auf Saareema wahrnahm. Die Schwesterfähre heißt „Tiu“, das wäre die Frau von Leiger. Der Bus fährt weiter nach Tallinn. Am Abend gehen wir wieder ins „Manna la Roosa“, aber die süße Bedienung hat leider frei.

Jetzt sitze ich also am Flughafen in Helsinki, und schreibe diese Zeilen, damit wird es mal wieder Zeit für das „Fazit“ zu Estland.

Wie schon Estland bin ich absolut positiv von Estland beeindruckt, diesmal halt weniger überrascht. Nix Ex-Soviet, das hier ist eine Kopie von Skandinavien. Die Leute sind freundlich, und die meisten können ganz gut Englisch. Eine andere Deutsche beschrieb mal den „unbedingten Willen, dass aus dem Land was wird“, und ich glaube, da hat sie Recht. Gerade in Tallinn könnte ich es länger aushalten. Der Rest des Landes ist schön, sehr gepflegt; aber auch etwas wenig los. Die Häfen als Ende einer Straße im Wald sind etwas irritierend. Auch die Busfahrt ein bisserl ähnlich wie in Lettland. Viel Wald. Interessant ist die estnische „no fucks given“ Haltung bei ihrer Sprache. War in Lettland noch viel Information sowohl auf Lettisch als auch in Englisch (und oft mehr) vorhanden, sind die Esten da selbstbewusster. Hinweisschild auf eine Touristenattraktion: Das reicht doch auf Estnisch: „Haapsalun piiskopilinna“, das Linna Burg oder Schloss heißt, hat man doch schnell raus, und das Piiskop was mit einem Bischof zu tun hat – jetzt stellt Euch nicht an. Dennoch – ein cooles Land – ich empfehle es weiter.

Season’s end

Eigentlich hatte ich gedacht, dass nach dem letzten Eintrag nimmer viel kommt. „bla bla, … sind zum Hafen für das Winterlager gefahren, dort haben dann die Typen von der Marina, bla bla, dann zum Bus, nach Tallinn, und Flug nach Hause, bla bla“.

Na ja, all das oben war, oder wird sein. Aber tatsächlich kam mir in den letzten 24 Stunden so oft der Gedanke ‚der Blog schreibt sind von alleine‘, dass es jetzt vielleicht doch länger wird. Das mit dem ‚alleine schreiben‘ ist eh nicht. Jeder Buchstabe, bzw. Blogstabe ist von mir handgetippt. Aber darum geht’s nicht.

Am Dienstag sind wir – wie angekündigt – nach Hiiuumaa gefahren, die Insel auf der unser Winterlager in Kärdla liegt. Wir sind im Fährhafen Heltermaa geblieben, wir nennen es Helter-Skelter obwohl man es eigentlich aussprechen kann. Für JUB ist es so einfacher, weil er am Mittwochmorgen die Fähre und den Bus nach Tallinn nehmen kann, um seine Heimreise zu gestalten. Es pisst. Frank und ich warten bis kurz nach 14:00, bevor wir weiterfahren. Kärdla liegt auf der gleichen Insel, ist aber ca. 4h entfernt. Die Kommunikation mit unserer Winterwerft lief bislang etwas unverbindlich, deshalb sind wir eh nicht ganz sicher, was uns erwartet.

Noch während der Einfahrt bemühe ich Google, wo man den in Kärdla was zwischen die Kauleisten bekommt. Eile nach dem Anlegen scheint geboten, fix das Anleger-Bier, und dann auf. Briis‘ Grill direkt am Hafen hat laut Google bis 21:00 auf, ist aber ganz offensichtlich: ZU. Die Nachsaison hat zugeschlagen, und Google hat’s noch nicht gecheckt. Hmm, am Strand gibt es ein weiteres Restaurant. Sicherheitshalber rufe ich an. „Ja, wir haben auf, aber beeilen Sie sich, die Küche macht in 30 Minuten zu. Ja, eine Reservierung sei trotzdem zu empfehlen“. Wir eilen. Es handelt sich um das Grillrestaurant Rannapaargu, echt chillige Lage direkt am Meer. Es macht uns misstrauisch, dass nur ein Auto davor steht, und als wir eintreten, werden wir als einzige Gäste begrüßt. Reservieren, haha. Da die Bedienung nicht viel zu tun hat, ist sie auskunftfreudig: ja, die Saison ist vorbei, eigentlich verdient das Restaurant seinen Jahresumsatz von Juni bis Mitte August. Den Rest des Jahres hat es auch auf, aber viel ist nicht los, manchmal ein Geburtstag. An drei Tagen der Woche hat der Chefkoch frei, da ist dann Suppentag. Nach Küchenschluss kommen noch zwei weitere Tische, auch die bekommen noch was zu Essen. Man ist wohl flexibel.

Danach gehen wir zum Hafen zurück, wo wir auch bei der Ankunft keinen Hafenmeister gefunden hatten. Kein Hafenmeister, kein Code für die Toiletten. Hmmm. Es gibt noch die Šampanjabaar „Kork“, und die bunten Terassenlichter lassen vermuten, dass sie noch auf haben. Also mal dahin, ggf. halt deren Toilette benutzen. Durch’s Fenster sehen wir eine gemütliche Gruppe, die gemütlich vor einer Leinwand sitzt. Als wir allerdings den Gastraum betreten – nichts. Unser „Hallo“ hallt unbeantwortet von den Wänden wider. Hmmm. Wir überlegen noch, was zu tun ist, da kommt eine Bedienung aus dem Raum nebenan (der mit der Leinwand) – ja, wir haben schon auf, aber am Mittwoch ist Kinotag, da treffen sich ein paar Kärdlaner zum Kino gucken. Es wäre ein dänischer Film mit estnischen Untertiteln – keine Lust? Egal. Sie verkauft uns zwei Gläser Wein und lässt uns in dem Gastraum alleine. Wir könnten jetzt auch die ganzen Whisky-Vorräte der Bar plündern, würde niemand merken. „Der Blog schreibt sich eigentlich von selbst“, stelle ich fest. Die Bedienung kennt auch den Code für die Hafen Toiletten: „1458#“, solltet Ihr mal in die Verlegenheit kommen. Wir trinken zwei Gläser Wein, und erkunden danach noch den Hafen. Uns interessiert besonders der Kran in der Ecke, der aktuell von zwei Polizeibooten blockiert wird. Wirkt a bisserl klein für unser Schiff. Tatsächlich ist er mit 3500kg gekennzeichnet, ungefähr ein Viertel der Seestern. Wir resignieren etwas – wahrscheinlich wird es nix damit, dass wir bis Freitagnachmittag das Schiff aus dem Wasser bekommen. Oh well. Wir gehen auf’s Schiff, überlegen noch, dass wir vielleicht mal im Winter kommen sollten; nicht nur wegen der Seestern, sondern auch um Estland mal Null-Saison zu sehen.

Am nächsten Morgen bereiten wir uns dennoch vor – die beiden Markos der Winterwerft meinten, ein Boris käme und nähme sich unserer an. Tatsächlich treffe ich ihn um neun im Hafenbüro, zusammen mit Kaja, die uns auf der Boot in Düsseldorf von Kärdla überzeugt hat. Boris meint, dass sie heute die Masten ziehen würden; wenn wir bis Mittag die Segel abgenommen hätten und uns dort, vor die Polizeiboote legen würden, wäre das herzallerliebst. Wir schöpfen Hoffnung. Langsam sind wir etwas geübt, in weniger als zwei Stunden schlagen wir die Segel ab, die Lazy Bags und lösen die elektrischen Verbindungen vom Mast. Wir tuckern an die zugewiesene Pier. Beim Segeln als Hobby ist es Tradition, einen Anlegeschluck zu feiern. Auch wenn wir nur 200m gefahren sind, und es erst elf Uhr morgens ist – wir haben angelegt. Es hilft ja nix – es gibt ein Bier.

Wie angekündigt kommt Boris um 13:00 mit zwei Helfern. Sie bereiten allerlei vor, ignorieren geflissentlich diverse Sicherheitsregeln (Boris steigt ungesichert mit Gummistiefeln auf unseren 8m hohen Besanmast), aber was unser immer noch fehlt: der Kran. Boris klärt uns auf: Die Masten werden nicht mit dem fest montierten Kran gezogen – der wäre unpraktisch. Statt dessen käme ein Multilift, das wäre besser. Nach einer Stunde sind die drei fertig. Boris meint, „now we have to wait – warten“. Sie würden einen Kaffee trinken gehen- ob wir auch mit wollen? Why not. Wir laufen aus dem Hafen in Richtung Stadt, kommen an einer kleinen Kaserne vorbei. Vorbei? Nein, nicht vorbei. Boris‘ Helfer hat eine Key-Card für das Kasernentor, sie führen uns in das Wachgebäude, grüßen den Wachhabenden, und gehen in die kleine Mannschaftsküche… der Blog schreibt sich von selbst. Wir erfahren dann, dass das nicht reguläre Armee sei, eher so etwas wie Zivilschutz oder Nationalgarde, aber auf dem Tisch steht ein Verpflegungspäckchen der „Estonian Defense Forces“. Egal, der Dallmayr-Kaffee kommt aus einem Jura-Vollautomat, und wir sitzen ein wenig und unterhalten uns. Der Kran würde kommen, und morgen „Slippen“ sie uns aus dem Wasser. Slippen kenne ich so von kleinen Motorbooten, die auf ihrem Anhänger mit einer Rampe ins Wasser gelassen werden. Es gibt viele lustige Youtube Videos, was dabei schief gehen kann. Offensichtlich haben sie hier Equipment, wo das auch mit einer 13 Tonnen schweren Segelyacht geht. Wenn der Blog veröffentlicht wird, wird es wohl Fotos geben, aber noch bin ich gespannt.

Der Multi-Lift soll um 15:30 kommen.

Mit etwas Verspätung kommt ein Multi-Funktions-Muldenkipper, der zwischen Ladefläche und Fahrerhaus einen klassischen kleinen Palfinger-Kran hat. Nach einer dreiviertel Stunde ist aus unserem Segelboot eine Motor-yacht geworden, die beiden Masten liegen auf der Pier. Jetzt sollen wir auf die andere Seite des Hafens fahren, dort holen sie uns Freitag morgen raus. Wir tuckern über den Hafen, legen dort an, wieder ein Anlege-Bier – es hilft ja nix, und freuen uns. Es könnte tatsächlich klappen bis morgen.

Durch die verschiedenen Aktivitäten des Tages bin ich nie zum Frühstücken gekommen (bis auf das Bier um elf), deshalb habe ich Kohldampf, und wir machen uns auf Richtung Downtown (bitte nicht lachen). Auch in Estland gibt es Dosenpfand, und natürlich sind wir norm-konform und bringen es zum Supermarkt. Wir erlösen 4,10€, die man allerdings nicht bar ausgezahlt bekommt, sondern ausgeben muss. Eine Flasche Spüli, eine Viererpackung Snickers und vier Cent Zuzahlung: Success.

Dann suchen wir uns ein Restaurant aus, das „Hiiumaa Pruulikoja Resto“. Als wir es finden, sind wir enttäuscht – es wirkt komplett verlassen. Ein einziges Auto auf dem Parkplatz, die Terrasse komplett leer (gut, bei dem Wetter kein Wunder), aber auch sonst kein Lebenszeichen. Eher aus Trotz laufen wir noch um das Gebäude herum. Es wirkt fast, als ob im ersten Stock Licht brennt. Echt jetzt? Kein einziges Hinweisschild? Nichts? Wir gehen über die Außentreppe hoch, und treten in den freundlichen Gastraum ein. Die Esten sind komisch, und das Marketing scheint hauptsächlich über Mundpropaganda zu funktionieren. An allen Wänden hängen Fernseher, es läuft „Suur Pauga Teoria“ (also Big Bang Theory), ohne Ton mit estnischen Untertiteln. Eine der ersten Episonde, wo Sheldon Amy kennen lernt. Die Musik ist dabei eine geniale Mischung aus Spät-Sechziger und Früh-Siebziger Classic Rock. Danach kommen noch die Simpsons, noch eine Folge von Big Bang Theory, und dann Beverly Hills Cop. Der Blog schreibt sich von selbst.

Danach gehen wir zum Schiff zurück, Frank packt noch der Endzeit-Rappel, und er installiert eine Motorraum-Beleuchtung, während ich diese Zeilen schreibe. Und nun – bin ich aktuell. Es muss jetzt erst einmal wieder was passieren, bevor ich weiter darüber berichten kann. Ich warte. Ich warte….

Ach, wisst Ihr was? Ich veröffentliche das jetzt, und dann kommt halt morgen oder die Tage noch ein „Wie sind wir heimgekommen, und was ist mein Fazit zu Estland“ Beitrag.

The long road back

Ein langer Hupton erklingt über den Hafen von Dirhami. Wir sind etwas irritiert. Es ist nicht viel los, und wir haben während des Anlegerbiers niemanden gesehen, der Grund hätte zu hupen (Seemännisch: „Pfeifen“). Der Ton erklingt noch einmal, und JUB ortet die Quelle: Eine Saxophonistin läuft auf dem Steg gegenüber im Tross einer betrunkenen, feiernden Meute auf ein Boot zu, und sie hat wahrscheinlich den niedrigsten Ton gespielt, den ihr Sax hergibt. Wir können nicht widerstehen, und drücken auch auf unsere Pfeife. Die soll nur warnen, und hat ein schiefes Vibrato. Andere liegende Boote in dem Hafen folgen unserem Beispiel. Die Keira, ein estnisches Fischerboot gegenüber, hat seine Pfeife wohl schon länger nicht benutzt. „Pffftbbbbbrrr“. Man sieht Bröckerl aus der Pfeife kommen, vielleicht war das ein Vogelnest. Doch dann sind die Fremdkörper entfernt, und ein wirklich lautes Typhon erklingt mit durchdringendem „Tuuut“. Jetzt stimmt die Saxophonistin den „Rosa Panther“ an, da können wir nicht mithalten. Sie klettert auf ein Segelboot, welches ablegt und in die Abenddämmerung ausläuft.

Wir sind bei leichtem Wind von Lohusalu nach Dirhami gesegelt; da waren wir zwar schonmal, aber so eng gesät sind die Häfen auch nicht – der nächste wäre vier Stunden weiter, und das fast ohne Wind. Außerdem – das Restaurant war nicht schlecht, da könnte man auch was anderes von der Karte probieren. Tatsächlich ist heute das „Crayfish Festival 2023“, es gibt eine live spielende Solo-Künstlerin (Die Saxophonistin hat auch ein Keyboard und kann singen), und der Laden ist proppevoll. Crayfish ist irgend so ein Viech wie Hummer, Languste oder Shrimp, genau wissen wir’s nicht, aber es gibt die Probier-Vorspeise „1 Crayfish with one glass of Aquavit“. Na dann, her damit. Es kommen drei Mini-Hummer, und Frank bemüht Google-Translator zu „Flusskrebs“. Mühsam bekommt man aus der Delikatesse ungefähr so viel Fleisch wie meinen kleinen Finger, aber wir mutmaßen, dass es auch eine „gesehen werden“ Speise ist. Der laute Tisch in der Mitte – die Gruppe, die am Nachmittag mit Segelboot und Saxophonistin auslief – bekommt eine große Platte. Am Strand vor dem Lokal ist ein großer Scheiterhaufen aufgebaut, einen ähnlichen hatten wir am Vorabend in Lohusalu gesehen. Wir fragen die Bedienung danach. Wie beim letzten Mal glänzt diese mit komplettem Unwissen, ist aber sehr freundlich. Es kommt die Chefin, und erklärt, dass er heute um 20:30 angezündet wird, um das Ende der Sommersaison und der Ferien zu feiern. Also ein SonnEndfeuer. Ob da überall an der Küste eines steht? Pünktlich um halb neun wird der Haufen angesteckt, wir nehmen noch einen Nachtisch.

Danach noch etwas in das runterbrennende Feuer schauen, das mir irgendwie symbolisch für das Ende unseres Urlaubs und der diesjährigen Segelsaison ist. Oli ist schon abgereist, wir haben uns endgültig für das Winterlager entschieden, und die Rückreise geplant, und JUB hat seine Rückreise ohne Flugzeug klar gemacht (Bus nach Tallinn, Fähre nach Stockholm, Nachtzug nach Hamburg, Zug nach Fellbach). Auch unsere Hafenplanung ist weniger nach dem Prinzip „Wo können wir zu aufregenden neuen Ufern aufbrechen?“ sondern mehr „Wie wählen wir die nächsten Häfen, so dass uns nicht der Wind irgendwo festsetzt, wo wir danach nicht mehr nach Kärdla kommenl?“

Tatsächlich sind auch an anderen Stellen der Bucht Feuer zu sehen, und an einer Stelle ein richtige Lichterkette. Bei genauerer Beobachtung bewegt sich die Lichterkette. Als wir am Ende der Hafenmauer stehen, weht der Wind Fetzen von Stimmen oder Gesang zu uns rüber. Wir beginnen, unsere Phantasie freien Lauf zu lassen. Wahrscheinlich lauter Gestalten in schwarzen Kutten, die auf Estnisch „Tod den Touristen“ in makabren Sprechgesang beschwören – und sie bewegen sich auf unseren Hafen zu. Bibber. Wir riskieren einen Blick – keine Kutten, dafür Familien und andere Grüppchen die an einer Nachtwanderung teilnehmen. Das Chorale kommt von dem Anführer der Gruppe, der in ein Funkgerät wissenswertes zur Geschichte erzählt. Blechern klingt es aus den Walkie-Talkies, die die anderen Teilnehmer tragen. Dennoch – die Gruppe läuft hinter dem Restaurant auf eine Wiese ein, die auch von hunderten Kerzen gesäumt ist. Sehr romantisch, das alles.

Am nächsten Morgen, als ich von der Dusche komme, treffe ich die Saxophonistin auf der Treppe des Restaurants sitzen und spreche sie an. Sie wäre „Komponistin“ und Musikerin und hat gestern zu dem Geburtstag des Eigentümers der Restaurants und einiger angeschlossenen Betriebe gespielt. Jetzt wartet sie, dass die Partygänger aufwachen, damit sie ihr Saxophon aus einem Auto holen kann, und mit dem Bus wieder zurück nach Saareema fahren. Aber immerhin – sie bekommt im Restaurant frische Pfannkuchen und Kaffee für umsonst, und wurde auch gestern mit der ganzen Gruppe verköstigt. Das Leben der Künstlerin: „Heute Kaviar und Champagner, morgen Spaghetti mit Salz“.

Am Tag drauf ist scheußliches Wetter und Sturm angesagt, da wollen wir lieber einen Hafen an einer Stadt haben als unsere vorher geplante Alternative. Also wieder nach Haapsalu, obwohl wir da auch schon waren. Die Alternative wäre Sviby auf Vormsi, gewesen, krasseste Beispiel eines End-of-the-road-Hafens, welches unser Hafenhandbuch beschreibt. Eigentlich nur der Fähranleger mit ein paar Stegen daneben, 7km zur nächsten Ortschaft. Wir warten dennoch den Vormittag in Dirhami ab, am Nachmittag soll der Wind günstiger für unseren weiteren Weg werden. Es wird ein schöner Segeltag, nur die letzten 45 Minuten müssen wir unseren Diesel bemühen, um die enge Zufahrt zum Hafen zu meistern.

Richtige Entscheidung – am Montag regnet es von morgens um sieben bis nachmittags um fünf abwechselnd stark, mäßig, reichhaltig, und ergiebig; dazu peitscht der Wind bis zu Sturmstärke. Immerhin – die perfekte Zeit, um etwas Workcation zu machen. Dienstag geht’s weiter auf die Insel Hiiuma, wo wir die Seestern für den Winter lassen.

Tallinn

„There are many bears in the forest of Estonia, they are quite abundant“, erklärt die Bedienung. Das ist jetzt keine Warnung an uns, sondern erklärt, warum auf der Speisekarte tatsächlich Bärenfleisch angeboten wird. Wir informieren uns – ähnlich wie Rindfleisch, etwas würziger, etwas wilder.

Das „Olde Hansa“ ist ein mehrfach empfohlenes Restaurant inmitten von Tallinn. Auf Mittelalter getrimmt, hat es auch etwas von Touristenfalle, aber Diana (siehe Blog zu Malaga) hat es empfohlen. Wir sind anfangs von den Preisen auf der ausgehängten Karte schockiert, da mehrere der Hauptgerichte dort für über 60 Euro daherkommen. Hmmmm. Ach mei, was kostet schon die Welt. Es ist Olis letzter Urlaubstag, morgen früh um kurz vor fünf muss er sich zum Flughafen aufmachen. Frank, JUB und ich setzen uns schonmal auf ein Bier hin, und Oli läuft noch 30 Minuten durch die Abenddämmerung in Tallinn – wir werden das morgen machen. Wir kämpfen uns derweil durch die Speisekarte, die etwas unüblich aber nicht ungeschickt gegliedert ist. Es gibt Speisen für wohlhabende Reisende, Speisen für den Adel, und Speisen für König:Innen. Hinter jedem Gericht steht noch die Getränkeempfehlung, kein blöder Schachzug, wenn man zu diesem Gericht noch den genau passenden Schnaps empfiehlt, obwohl man eigentlich gar keinen Schnaps wollte. Wir überlegen: wirklich Bär? Paddington Bear, Pu der Bär, Steiff-Teddies – kann man die wirklich essen? Na ja, mit einer guten Sauce wahrscheinlich schon. Der Bär steht in dem Kartenbereich für die Monarchie, und wird für 68 Euro aufgerufen. Wir machen einen Kompromiss – bestellen vier verschiedene Gerichte und lassen den Teller nach jeweils einem Viertel weiter rund gehen. So kommt zum Bären noch „A generous Share of the finest Game fillet“ für Könige, Iberico Rippchen für den Adel, und Lamm nach Livländischer Art – mit Himalaya Gewürzen (Häh?!?). Dazu noch der Reval Fleisch-Probierteller, dunkles Bier mit Kräutern, und am Ende ein gewürzter Claret. Alles serviert von einer Maid in typischem Mittelaltergewand, die uns ehrfürchtig als „erlauchte Herrschaften“ anspricht. Das Essen lecker, der Bär – mei, irgendwie wie geschmorte Rinderbäckchen. Am Ende noch die Entscheidung nach der Zahlweise: „Gold Coin or Magic Coin?“

Nach Tallinn sind wir von Dirhami gesegelt, ein laues Lüftchen von hinten, mit unserem Blister (Leichtwindsegel). Es klingt vielleicht komisch, aber Wind von hinten ist gar nicht so ideal wie man denken könnte. Eigentlich müsste man dazu aufwendig einen Spinnacker setzen, aber mit anderen Segeln ist ‚vor dem Wind‘ nervenaufreibend. Kommt der Wind zu sehr von hinten, hält den Blister nichts mehr draußen. Mit erheblichem Getöse verwandelt sich das bis eben prall gefüllte Segel in ein flatterndes Ungetüm, und man muss fix korrigieren damit des sich wieder füllt. Außerdem ist vor Tallinn ein sogenanntes „Verkehrstrennungsgebiet“, eine in der Seekarte ausgewiesene Autobahn, auf der wir Freizeitkapitäne nix verloren haben. Es ist zwar den ganzen Tag hier noch kein Schiff gefahren, aber das wäre auch keine Ausrede, auf der Autobahn Fahrrad zu fahren. In der Bucht vor Tallinn tauchen an dem schönen Nachmittag noch viele Segler auf; kurz nachdem wir vor dem Hafen die Segel geborgen haben, kommen wir fast einer Regatta in die Quere. Auf dem AIS – wo die voraussichtliche Route der Boote angezeigt wird – sieht es zum Fürchten aus. Die Stadt-Marina von Tallinn liegt direkt hinter den Fähranlegern in einem Viertel, das wohl mal Speicherstadt und Industriegebiet war. Direkt am Hafen weicht das Industriegebiet gerade einem modernen Viertel wie südlich der Arnulfstraße in München. Zu Fuß sind es 15 Minuten in die Altstadt.

Früher hieß die Stadt Reval, doch um dem EU-Verbot von Zigarettenwerbung zuvor zu kommen wurde sie umbenannt. Entspannt ziellos schlendern wir am nächsten Mittag in die Stadt, essen in einer mittelalterlichen Gasse eine Pizza, lassen uns danach von der Tourist Information noch ein paar Beauty Spots zeigen (Besonders die Aussichtspunkte von der Oberstadt auf die restliche Altstadt), und trinken noch ein Kaffee an einem Platz, wo gerade für ein Ukraine-Benefiz-Konzert geprobt wird. JUB und ich gehen nochmal zum Schiff und laufen dabei durch die ehemalige Speicherstadt, die mit aufregender Architektur wohl vor wenigen Jahren wieder zum Leben erweckt wurde. Aus alten Gemäuern wachsen verspiegelte Glaswürfel in den Himmel, an jeder Ecke ein Restaurant. Sehr hip, gefällt mir gut. Allerdings schafft es keines der Restaurants, uns zu überzeugen, und so landen wir am Abend in einem weiteren Tipp von Diana: dem „Manna la Roosa“, welches mit aufregenden Cocktails, einer attraktiven Bedienung und außergewöhnlichem Ambiente auf uns wartet.

Die Windprognose für die nächsten Tage tritt unseren Plan, nach Helsinki zu fahren, in die Ronne, möglicherweise würde uns ein starker Westwind eher im Golf von Finland festhalten, deswegen fahren wir an der estnischen Küste zurück. Am nächsten Tag ist Flaute angesagt, deshalb vertrödeln wir auch diesen Vormittag mit Chillen und etwas Arbeiten, bevor wir weiter nach Lohusalu fahren. Auch dieser Hafen eher ein Ende der Welt, aber tatsächlich hat das Restaurant gute Kritiken und ansprechende Bilder der dargebotenen Speisen. Beim Anlegen fällt mir am Steg ein dickes braunes Nagetier auf, welches aber zügig flüchtet. Nach dem Anlegen, beim obligatorischen Bier, sehen wir weitere ähnliche Tiere, die irgendwie Marder, Frettchen, Nerze oder Otter sein können. Was ist eigentlich der Unterschied? Wir fragen Chat GPT, und es entwickelt sich eine interessante Unterhaltung, wo wir immer wieder versuchen mit neuen Fragen das Tier einzugrenzen („es kann schwimmen“), und uns Chat GPT rät, auf Gesichtsform und Körperbau zu achten, so penetrant, dass ich beim Vorlesen der Ergebnisse etwas kreativ mit der Wiedergabe werde. Chat GPT: “ Du bist jetzt einfach zu faul, auch die Geschichtsform zu achten, oder?“ Als ich zum Hafenmeister gehe, der nicht besonders gut Englisch spricht, frage ich nach dem Tier. Bevor ich den Satz fertig habe sagt er: „Mink. American Mink.“ Vielleicht bin ich nicht der erste der fragt. Also ein Hauch von Nerz, hier eine invasive Spezies. Das Restaurant hat leider zu, deshalb bemühen wir unsere Vorräte für den Abend.