Mit dem Schiff zum Schiff

Um den Bug der Tiiu tanzen Eisberge. Gefahr! Es kann doch kein Zufall sein, dass der Name dieses Schiff auch mit „Ti“ anfängt. Sofort ist mir das Szenenbild aus Titanic im Kopf, wo der Ausguck den Eisberg sieht, und die Kollegen auf der Nock von crushed ice überschauert werden. Das wird dramatisch. Aber vielleicht relativiere ich etwas: eis-BERG ist es wahrscheinlich nur für einen kleinen Shrimp. Tatsächlich sind es kleine Eisschollen mit bis zu einem Meter Durchmesser, die da im Hafenbecken treiben, aber immerhin nicht nur einzelne. Während die Fähre noch fest an der Hafenmauer liegt treiben sie ein wenig nach hinten, und ich habe sofort den Eindruck dass wir uns leicht bewegen – der gleiche Effekt wie wenn das Auto neben einem an der Ampel zurückrollt. Beim Ablegen reichen die Wasserbewegungen des Bugstrahlruders, dass die Schollen wild durch den Hafen treiben, und als wir die Hafenmauer hinter uns lassen, ist es vorbei mit den überdimensionalen Eiswürfeln.

In Kärdla habe ich mir eine FeWo in der Kapitänsvilla genommen. Von neun Appartements scheine ich der einzige Gast zu sein. Somit die gesamte WiFi Bandbreite für mich; ich arbeite etwas. Das Treffen an der Seestern ist erst am Dienstag Vormittag, dann ist auch Marko (der Chef) da. Am Abend in der Brauereikneipe von Kärdla, und früh ins Bett.

Ich kam ja noch nie gut aus dem Bett, aber hier ist es noch etwas schwieriger. Auch um neun Uhr morgens ist es noch eher dämmrig, und trüb bewölkt ist es sowieso. Aber um halb elf bin ich an der Werft, und treffe Boris, der die meisten der tatsächlichen Arbeiten durchführt. Boris verfrachtet mich in das Büro der Werft; dort könne ich auf Marko warten. Als sich herausstellt, dass das nicht in fünf Minuten passieren wird, schaue ich doch zur Seestern in der Halle raus. Ganz schön eng hier. Beim Erklimmen der Leiter aufs Schiff stoße ich mit meinem Rucksack immer am Rumpf des Schiffes neben uns an. Was für ein Chaos an Deck. Gut, was hatte ich erwartet? Wir lassen ja das Süllbord ersetzen, das ist eine Holzleiste am Abschluss vom Rumpf. Dazu muss alles abmontiert werden, was da drauf sitzt. Bugkorb, Relingstützen, Klampen, Heckkorb und diverse Scheuerleisten. And das liegt jetzt alles pragmatisch auf dem Deck herum. Das Süllbord selber ist aber noch da. Wird bestimmt alles fertig sein und gut gehen, bis wir wieder zum Schiff kommen. Ich erledige ein paar Kleinigkeiten und rede dann erst einmal mit Boris. Allgemeiner Tenor ist eine Variation folgendes Themas: „Jaja, wissen wir, das machen wir, da sind wir dran, aber nein, fertig ist es noch nicht, und genaues können wir auch nicht sagen.“ Als zwei Stunden später Marko sowohl da ist, als auch für mich Zeit hat, wiederholt sich das Schauspiel. Um halb vier gebe ich zu, dass ich jetzt auch nicht wirklich viel helfen oder erreichen kann, montiere noch schnell aus Trotz eine neue Opferanode auf unserem Propeller, und fahre in die Unterkunft zurück. Dort noch etwas Arbeiten, und dann probiere ich mal aus, was so im estnischen Fernsehen kommt. Doch es begrüßt mich der Startbildschirm von Netflix.

Eigentlich habe ich ja auch in München einen Netflix-account auf dem ich viertellegal mitgucken kann, aber da mache ich es seltener; ich habe ja noch so viel anderes was ich tun kann/müsste. In Kärdla nicht. Um halb drei Uhr morgens habe ich drei Filme und die Hälfte der ersten Staffel von Killing Eve gesehen, als ich mich endlich losreißen kann. Gut, für morgen ist auch nicht viel mehr geplant, als wieder zurück aufs Festland zu fahren.

Winter Wonderland

Uiii – das ist selten: bei Air Baltic lassen sie das Handgepäck in die Norm-Form pressen und wiegen es. Da sind Rucksäcke gar nicht so gut, aber ich hoffe ich bekomme ihn hineingewurschtelt. Das scheint aber gar nicht so wichtig. Übergewicht! Nicht nur ich, auch der Rucksack; er bringt fast 12 kg auf die Waage. Erlaubt, klärt mich die Papptafel dahinter auf, sind 8kg. Im Gegensatz zu Ende (Erste Teilgeschichte von diesem Beitrag) gibt es aber hier jemand, der eine Zahlung entgegennehmen kann. Die Waagenbedienerin erlaubt mir noch kurz umzupacken. Der Skianorak, der mir diese Reise eine warme Jacke sein soll (und in dem ich schon in der S-Bahn geschwitzt habe), wird ausgepackt und angezogen. Netzteile, Powerbank und sonst einiger Elektroschrott wird aus dem Rucksack genommen und in den geräumigen Taschen der Jacke verstaut. Ganz geschafft habe ich es nicht, aber 9kg reichen für Kulanz.

Air Baltic könnte Euch ein Hinweis sein – obwohl es Januar ist, fliege ich in den Norden. Mal etwas antizyklisch unterwegs sein? Tatsächlich ist der Grund viel schnöder. Die Seestern überwintert wieder in Kärdla. Die Werft dort ist kommunikationstechnisch nicht viel besser geworden (vgl. Frühling 2024) So haben wir eine Liste erstellt, mit all den Arbeiten die wir vielleicht durchführen lassen wollen, Frank hat sie auf unserem Drive mit Marko geteilt, dass es kommentieren könne, und was ist passiert? Nix. Obwohl, das ist falsch. Der Schreiner, der noch Ende August wegen dem Süllbord kam, hat einen Auftrag bekommen, und irgendwann kam ein Angebot für neue Lazybags. Sehr ausführlich, das Angebot, mit zwei Positionen: Lazybags neu, Lazybags reparieren. Für die Nichtsegler: Lazybags sind eine Art Beutel für die Segel, die unten am Baum (der Stange, weg vom Mast) befestigt sind. Wenn man die Segel nicht mehr braucht, lässt man sie einfach (lazy) fallen, und sie werden durch ein paar Leinen (lazy-jacks) so geführt, dass sie in den Beutel fallen. Dann Reißverschluss zu, und alles ist aufgeräumt. Ich weiß nicht, wie Ihr es da mit dem Vertrauen haltet – reicht eine kurze Zeile für Euch, um einen Auftrag für deutlich über tausend Euro zu vergeben? Wir sind da spießig. UND – da es noch ungefähr weitere zehn Fragen gibt, die nicht beantwortet sind, UND den Norden mal im Winter sehen wollte*, beschloss ich, das Schiff zu besuchen, und dann etwas Norden dranzuhängen, wieder mit Work&Travel Visa. Sonntag früh ab München nach Riga, dann mit 9kg Handgepäck weiter nach Tallinn, auf ins Winterparadies.

Hier in Riga ist allerdings noch alles braun-grün, und trüb. Beim Anflug auf Tallinn dann doch etwas Schnee. Die weiße Hölle Piz Palü ist es nicht gerade, aber immerhin ist im verschatteten Bereich von Feldern noch eine deutliche Schneedecke sichtbar. In der Stadt selber gibt es noch die schmutzigen Schneehügel, die der Schneepflug vor ein paar Wochen zusammengeschoben hat. Ich habe mir ein Auto gemietet, das ist jetzt recht preiswert, hat garantiert Winterreifen, und gibt mir mehr Flexibilität.

Als wir Marko nach dem Angebot für die Lazybags fragten, hat er einfach die Kontaktdaten des damit betrauten Segelmachers über den Zaun geworfen – viel einfacher, wenn wir uns selber kümmern. Der Segelmacher ist von meinen Reiseplänen nicht begeistert. In der Woche kann er sich nicht mit mir treffen, vor allem nicht am Boot. Er fliegt am Dienstag in die USA, um an der Weltmeisterschaft im Eissegeln teilzunehmen, und hat deshalb auch am Montag keine Zeit. Allerdings sitzt er in Haapsalu, also am Festland. Ich erkläre ihm, dass ich mit dem Auto unterwegs bin, ihn in seiner Werkstatt besuchen könnte, und er da gefälligst mittags mal eine Viertelstunde Zeit für mich haben muss. Na gut, aber vormittags. Also breche ich noch bei Dunkelheit in Tallinn auf und fahre nach Haapsalu. Die Fahrt dauert keine 90 Minuten, wäre schneller gewesen, wenn ich nicht der Wegweisung gefolgt wäre. Immerhin kenne ich jetzt fast den gesamten Autobahnring um Tallinn herum.

Estland ist weit. Na ja, nicht Utah-mäßig weit, aber doch etwas dünn besiedelt. Ein paar Reste von Schnee, ansonsten eher braun, mit Pfützen auf den Feldern. Ab und zu ein paar Behausungen. Ein Teil sicher älter als 35 Jahre alt, manche liebevoll renoviert zum Ferienhaus, ein paar zeugen davon dass Landwirtschaft auch weiter kein sehr lukratives Geschäft ist. 

Das Gewerbegebiet in Haapsalu scheint gebäudetechnisch noch aus Sovietzeiten zu stammen, das sieht man dem Treppenhaus auch noch an, aber die Werkstatt selber ist warm, hell und freundlich. Sie besteht im wesentlich aus einer Holzbühne, an deren Rand es Einschnitte mit Nähmaschinen gibt. Joonas kann mir ein paar Textilmuster zeigen, ist überrascht dass wir auch zwei ‚Kamine‘ brauchen, die die Lazybags um den Mast abschließen, und zeigt mir ein paar Alternativen der Ausführung. OK, der Rest per Mail, das kann er auch von den USA aus.

Danach fahre ich weiter zur Fähre. Offensichtlich fährt sie im Winter nicht jede Stunde, also habe ich 2 ½ Stunden Zeit, Haapsalu zu erkunden. Im Sommer 2025 waren wir mit der Seestern hier, ich bin gespannt. Im Hafen auf unserem Liegeplatz könnte man aktuell Schlittschuhfahren, aber nur wenn man gaaaaaanz leicht ist. Vielleicht besser nicht. Es liegt kein einziges Boot im Wasser, und auch die Tonnen des engen Fahrwassers sind nicht mehr dort.

Als ich später in der Autoschlange auf die Fähre warte, fällt mir auch auf, dass 2/3 der Autos Spikes-Winterreifen haben. 24h Stunden später wird mir auffallen, dass auch mein Mietwagen solche Reifen hat. OK, die nehmen es wohl schon ernst hier.

*Wenn ich es auf einen Auslöser für den Reisewunsch festlegen sollte, dann wäre es als Rainer aus „Familienausflug“ bei unseren Erzählungen vom Segeln zwischen den Schären meinte: „ja, die Inseln kennt er auch, aber er fährt halt im Winter mit Langlaufski dorthin (oder waren es Wander-Schlittschuh?)“. Krass, dachte ich mir, das will ich sehen. Aber auch ganz allgemein – im Norden des bottnischen Meeresbusen ist die Saison wohl ca. sechs Wochen lang, ganz reizend, alles grün, man saß draußen in der Sonne, die Leute flanierten auf der Straße… Und wie häufig dachte ich mir: Schön hier, aber wie ist das wohl im Winter?