Uiii – das ist selten: bei Air Baltic lassen sie das Handgepäck in die Norm-Form pressen und wiegen es. Da sind Rucksäcke gar nicht so gut, aber ich hoffe ich bekomme ihn hineingewurschtelt. Das scheint aber gar nicht so wichtig. Übergewicht! Nicht nur ich, auch der Rucksack; er bringt fast 12 kg auf die Waage. Erlaubt, klärt mich die Papptafel dahinter auf, sind 8kg. Im Gegensatz zu Ende (Erste Teilgeschichte von diesem Beitrag) gibt es aber hier jemand, der eine Zahlung entgegennehmen kann. Die Waagenbedienerin erlaubt mir noch kurz umzupacken. Der Skianorak, der mir diese Reise eine warme Jacke sein soll (und in dem ich schon in der S-Bahn geschwitzt habe), wird ausgepackt und angezogen. Netzteile, Powerbank und sonst einiger Elektroschrott wird aus dem Rucksack genommen und in den geräumigen Taschen der Jacke verstaut. Ganz geschafft habe ich es nicht, aber 9kg reichen für Kulanz.
Air Baltic könnte Euch ein Hinweis sein – obwohl es Januar ist, fliege ich in den Norden. Mal etwas antizyklisch unterwegs sein? Tatsächlich ist der Grund viel schnöder. Die Seestern überwintert wieder in Kärdla. Die Werft dort ist kommunikationstechnisch nicht viel besser geworden (vgl. Frühling 2024) So haben wir eine Liste erstellt, mit all den Arbeiten die wir vielleicht durchführen lassen wollen, Frank hat sie auf unserem Drive mit Marko geteilt, dass es kommentieren könne, und was ist passiert? Nix. Obwohl, das ist falsch. Der Schreiner, der noch Ende August wegen dem Süllbord kam, hat einen Auftrag bekommen, und irgendwann kam ein Angebot für neue Lazybags. Sehr ausführlich, das Angebot, mit zwei Positionen: Lazybags neu, Lazybags reparieren. Für die Nichtsegler: Lazybags sind eine Art Beutel für die Segel, die unten am Baum (der Stange, weg vom Mast) befestigt sind. Wenn man die Segel nicht mehr braucht, lässt man sie einfach (lazy) fallen, und sie werden durch ein paar Leinen (lazy-jacks) so geführt, dass sie in den Beutel fallen. Dann Reißverschluss zu, und alles ist aufgeräumt. Ich weiß nicht, wie Ihr es da mit dem Vertrauen haltet – reicht eine kurze Zeile für Euch, um einen Auftrag für deutlich über tausend Euro zu vergeben? Wir sind da spießig. UND – da es noch ungefähr weitere zehn Fragen gibt, die nicht beantwortet sind, UND den Norden mal im Winter sehen wollte*, beschloss ich, das Schiff zu besuchen, und dann etwas Norden dranzuhängen, wieder mit Work&Travel Visa. Sonntag früh ab München nach Riga, dann mit 9kg Handgepäck weiter nach Tallinn, auf ins Winterparadies.
Hier in Riga ist allerdings noch alles braun-grün, und trüb. Beim Anflug auf Tallinn dann doch etwas Schnee. Die weiße Hölle Piz Palü ist es nicht gerade, aber immerhin ist im verschatteten Bereich von Feldern noch eine deutliche Schneedecke sichtbar. In der Stadt selber gibt es noch die schmutzigen Schneehügel, die der Schneepflug vor ein paar Wochen zusammengeschoben hat. Ich habe mir ein Auto gemietet, das ist jetzt recht preiswert, hat garantiert Winterreifen, und gibt mir mehr Flexibilität.
Als wir Marko nach dem Angebot für die Lazybags fragten, hat er einfach die Kontaktdaten des damit betrauten Segelmachers über den Zaun geworfen – viel einfacher, wenn wir uns selber kümmern. Der Segelmacher ist von meinen Reiseplänen nicht begeistert. In der Woche kann er sich nicht mit mir treffen, vor allem nicht am Boot. Er fliegt am Dienstag in die USA, um an der Weltmeisterschaft im Eissegeln teilzunehmen, und hat deshalb auch am Montag keine Zeit. Allerdings sitzt er in Haapsalu, also am Festland. Ich erkläre ihm, dass ich mit dem Auto unterwegs bin, ihn in seiner Werkstatt besuchen könnte, und er da gefälligst mittags mal eine Viertelstunde Zeit für mich haben muss. Na gut, aber vormittags. Also breche ich noch bei Dunkelheit in Tallinn auf und fahre nach Haapsalu. Die Fahrt dauert keine 90 Minuten, wäre schneller gewesen, wenn ich nicht der Wegweisung gefolgt wäre. Immerhin kenne ich jetzt fast den gesamten Autobahnring um Tallinn herum.
Estland ist weit. Na ja, nicht Utah-mäßig weit, aber doch etwas dünn besiedelt. Ein paar Reste von Schnee, ansonsten eher braun, mit Pfützen auf den Feldern. Ab und zu ein paar Behausungen. Ein Teil sicher älter als 35 Jahre alt, manche liebevoll renoviert zum Ferienhaus, ein paar zeugen davon dass Landwirtschaft auch weiter kein sehr lukratives Geschäft ist.
Das Gewerbegebiet in Haapsalu scheint gebäudetechnisch noch aus Sovietzeiten zu stammen, das sieht man dem Treppenhaus auch noch an, aber die Werkstatt selber ist warm, hell und freundlich. Sie besteht im wesentlich aus einer Holzbühne, an deren Rand es Einschnitte mit Nähmaschinen gibt. Joonas kann mir ein paar Textilmuster zeigen, ist überrascht dass wir auch zwei ‚Kamine‘ brauchen, die die Lazybags um den Mast abschließen, und zeigt mir ein paar Alternativen der Ausführung. OK, der Rest per Mail, das kann er auch von den USA aus.






Danach fahre ich weiter zur Fähre. Offensichtlich fährt sie im Winter nicht jede Stunde, also habe ich 2 ½ Stunden Zeit, Haapsalu zu erkunden. Im Sommer 2025 waren wir mit der Seestern hier, ich bin gespannt. Im Hafen auf unserem Liegeplatz könnte man aktuell Schlittschuhfahren, aber nur wenn man gaaaaaanz leicht ist. Vielleicht besser nicht. Es liegt kein einziges Boot im Wasser, und auch die Tonnen des engen Fahrwassers sind nicht mehr dort.
Als ich später in der Autoschlange auf die Fähre warte, fällt mir auch auf, dass 2/3 der Autos Spikes-Winterreifen haben. 24h Stunden später wird mir auffallen, dass auch mein Mietwagen solche Reifen hat. OK, die nehmen es wohl schon ernst hier.










*Wenn ich es auf einen Auslöser für den Reisewunsch festlegen sollte, dann wäre es als Rainer aus „Familienausflug“ bei unseren Erzählungen vom Segeln zwischen den Schären meinte: „ja, die Inseln kennt er auch, aber er fährt halt im Winter mit Langlaufski dorthin (oder waren es Wander-Schlittschuh?)“. Krass, dachte ich mir, das will ich sehen. Aber auch ganz allgemein – im Norden des bottnischen Meeresbusen ist die Saison wohl ca. sechs Wochen lang, ganz reizend, alles grün, man saß draußen in der Sonne, die Leute flanierten auf der Straße… Und wie häufig dachte ich mir: Schön hier, aber wie ist das wohl im Winter?