„There are many bears in the forest of Estonia, they are quite abundant“, erklärt die Bedienung. Das ist jetzt keine Warnung an uns, sondern erklärt, warum auf der Speisekarte tatsächlich Bärenfleisch angeboten wird. Wir informieren uns – ähnlich wie Rindfleisch, etwas würziger, etwas wilder.
Das „Olde Hansa“ ist ein mehrfach empfohlenes Restaurant inmitten von Tallinn. Auf Mittelalter getrimmt, hat es auch etwas von Touristenfalle, aber Diana (siehe Blog zu Malaga) hat es empfohlen. Wir sind anfangs von den Preisen auf der ausgehängten Karte schockiert, da mehrere der Hauptgerichte dort für über 60 Euro daherkommen. Hmmmm. Ach mei, was kostet schon die Welt. Es ist Olis letzter Urlaubstag, morgen früh um kurz vor fünf muss er sich zum Flughafen aufmachen. Frank, JUB und ich setzen uns schonmal auf ein Bier hin, und Oli läuft noch 30 Minuten durch die Abenddämmerung in Tallinn – wir werden das morgen machen. Wir kämpfen uns derweil durch die Speisekarte, die etwas unüblich aber nicht ungeschickt gegliedert ist. Es gibt Speisen für wohlhabende Reisende, Speisen für den Adel, und Speisen für König:Innen. Hinter jedem Gericht steht noch die Getränkeempfehlung, kein blöder Schachzug, wenn man zu diesem Gericht noch den genau passenden Schnaps empfiehlt, obwohl man eigentlich gar keinen Schnaps wollte. Wir überlegen: wirklich Bär? Paddington Bear, Pu der Bär, Steiff-Teddies – kann man die wirklich essen? Na ja, mit einer guten Sauce wahrscheinlich schon. Der Bär steht in dem Kartenbereich für die Monarchie, und wird für 68 Euro aufgerufen. Wir machen einen Kompromiss – bestellen vier verschiedene Gerichte und lassen den Teller nach jeweils einem Viertel weiter rund gehen. So kommt zum Bären noch „A generous Share of the finest Game fillet“ für Könige, Iberico Rippchen für den Adel, und Lamm nach Livländischer Art – mit Himalaya Gewürzen (Häh?!?). Dazu noch der Reval Fleisch-Probierteller, dunkles Bier mit Kräutern, und am Ende ein gewürzter Claret. Alles serviert von einer Maid in typischem Mittelaltergewand, die uns ehrfürchtig als „erlauchte Herrschaften“ anspricht. Das Essen lecker, der Bär – mei, irgendwie wie geschmorte Rinderbäckchen. Am Ende noch die Entscheidung nach der Zahlweise: „Gold Coin or Magic Coin?“
Nach Tallinn sind wir von Dirhami gesegelt, ein laues Lüftchen von hinten, mit unserem Blister (Leichtwindsegel). Es klingt vielleicht komisch, aber Wind von hinten ist gar nicht so ideal wie man denken könnte. Eigentlich müsste man dazu aufwendig einen Spinnacker setzen, aber mit anderen Segeln ist ‚vor dem Wind‘ nervenaufreibend. Kommt der Wind zu sehr von hinten, hält den Blister nichts mehr draußen. Mit erheblichem Getöse verwandelt sich das bis eben prall gefüllte Segel in ein flatterndes Ungetüm, und man muss fix korrigieren damit des sich wieder füllt. Außerdem ist vor Tallinn ein sogenanntes „Verkehrstrennungsgebiet“, eine in der Seekarte ausgewiesene Autobahn, auf der wir Freizeitkapitäne nix verloren haben. Es ist zwar den ganzen Tag hier noch kein Schiff gefahren, aber das wäre auch keine Ausrede, auf der Autobahn Fahrrad zu fahren. In der Bucht vor Tallinn tauchen an dem schönen Nachmittag noch viele Segler auf; kurz nachdem wir vor dem Hafen die Segel geborgen haben, kommen wir fast einer Regatta in die Quere. Auf dem AIS – wo die voraussichtliche Route der Boote angezeigt wird – sieht es zum Fürchten aus. Die Stadt-Marina von Tallinn liegt direkt hinter den Fähranlegern in einem Viertel, das wohl mal Speicherstadt und Industriegebiet war. Direkt am Hafen weicht das Industriegebiet gerade einem modernen Viertel wie südlich der Arnulfstraße in München. Zu Fuß sind es 15 Minuten in die Altstadt.
Früher hieß die Stadt Reval, doch um dem EU-Verbot von Zigarettenwerbung zuvor zu kommen wurde sie umbenannt. Entspannt ziellos schlendern wir am nächsten Mittag in die Stadt, essen in einer mittelalterlichen Gasse eine Pizza, lassen uns danach von der Tourist Information noch ein paar Beauty Spots zeigen (Besonders die Aussichtspunkte von der Oberstadt auf die restliche Altstadt), und trinken noch ein Kaffee an einem Platz, wo gerade für ein Ukraine-Benefiz-Konzert geprobt wird. JUB und ich gehen nochmal zum Schiff und laufen dabei durch die ehemalige Speicherstadt, die mit aufregender Architektur wohl vor wenigen Jahren wieder zum Leben erweckt wurde. Aus alten Gemäuern wachsen verspiegelte Glaswürfel in den Himmel, an jeder Ecke ein Restaurant. Sehr hip, gefällt mir gut. Allerdings schafft es keines der Restaurants, uns zu überzeugen, und so landen wir am Abend in einem weiteren Tipp von Diana: dem „Manna la Roosa“, welches mit aufregenden Cocktails, einer attraktiven Bedienung und außergewöhnlichem Ambiente auf uns wartet.
Die Windprognose für die nächsten Tage tritt unseren Plan, nach Helsinki zu fahren, in die Ronne, möglicherweise würde uns ein starker Westwind eher im Golf von Finland festhalten, deswegen fahren wir an der estnischen Küste zurück. Am nächsten Tag ist Flaute angesagt, deshalb vertrödeln wir auch diesen Vormittag mit Chillen und etwas Arbeiten, bevor wir weiter nach Lohusalu fahren. Auch dieser Hafen eher ein Ende der Welt, aber tatsächlich hat das Restaurant gute Kritiken und ansprechende Bilder der dargebotenen Speisen. Beim Anlegen fällt mir am Steg ein dickes braunes Nagetier auf, welches aber zügig flüchtet. Nach dem Anlegen, beim obligatorischen Bier, sehen wir weitere ähnliche Tiere, die irgendwie Marder, Frettchen, Nerze oder Otter sein können. Was ist eigentlich der Unterschied? Wir fragen Chat GPT, und es entwickelt sich eine interessante Unterhaltung, wo wir immer wieder versuchen mit neuen Fragen das Tier einzugrenzen („es kann schwimmen“), und uns Chat GPT rät, auf Gesichtsform und Körperbau zu achten, so penetrant, dass ich beim Vorlesen der Ergebnisse etwas kreativ mit der Wiedergabe werde. Chat GPT: “ Du bist jetzt einfach zu faul, auch die Geschichtsform zu achten, oder?“ Als ich zum Hafenmeister gehe, der nicht besonders gut Englisch spricht, frage ich nach dem Tier. Bevor ich den Satz fertig habe sagt er: „Mink. American Mink.“ Vielleicht bin ich nicht der erste der fragt. Also ein Hauch von Nerz, hier eine invasive Spezies. Das Restaurant hat leider zu, deshalb bemühen wir unsere Vorräte für den Abend.
Wieder eine lebhafte und stilistisch überragende Beschreibung der Reise. Dieses Mal kann ich es besser einordnen – denn ich war dabei. Das hat ganz viel Spaß gemacht, war einerseits sehr entspannend (man schaut stundenlang aufs Wasser) und andererseits sehr anregend, weil ich viele neue Dinge lernen durfte (Schiffstechnik, Navigation,…) Wenn Ihr mich nochmal mitnehmt, klappt es auch mit den Knoten besser.
Vielen Dank an Chris, Frank und JUB für die tolle Woche!