Anetts neues Album kommt im September in den Handel, aber heute spielt sie schon einmal ein Lied davon für uns – sie hofft, dass es uns gefällt. Die Menge klatscht frenetisch; Anett stimmt „Little by little“ an. Den Titel, den habe ich immerhin selber verstanden, den Rest hat mir Niklas simultanübersetzt ins Ohr gebrüllt. Niklas hat einen Becher Bier in der Hand, amüsiert sich prächtig, umarmt seine Frau Külli und zieht weiter durch die Menge. Anett spricht wieder Estnisch vor ihrem nächsten Lied, ich verstehe gar nix. Dafür ist die Musik wirklich gut, ich bin positiv überrascht. Ich gebe meinen Platz in der dritten Reihe vor der Bühne auf, und geselle mich zu den anderen, die fast 20 Meter von der Hauptbühne des Kõiguste Festival 2023 stehen, und wir gratulieren uns zu dieser spontanen Entscheidung.
Auf das Festival sind wir durch ein Plakat in Kuressaare aufmerksam geworden. Es findet am 18. und 19. August statt, und als wir es lesen, ist es der 18. Witzige Idee, vielleicht. Blöde Idee, ist auch möglich. Wahrscheinlich ist der Hafen ausgebucht, es gibt keine Tickets mehr, und die Musik ist nicht unser Geschmack. Was nun? Der Hafen von Kõiguste liegt günstig für unseren weiteren Plan, super Alternativen gibt es nicht. Ein Anruf beim Hafenmeister klärt, dass es schon noch Platz im Hafen gibt, Tickets auch. Wenn wir an dem Tag kämen, müssten wir sogar Karten kaufen, aber vom Hafen aus würde man auch beide Bühnen hören und sehen. Niklas – der Hafenmeister – redet Deutsch und verabschiedet sich mit einem „bis später.“ Na gut, wir versuchen es. Als wir um 19:00 ankommen, ist der Hafen maximal zur Hälfte gefüllt, wir legen gaaaaanz entspannt längsseits an. Auf der Hauptbühne spielt gerade Maian, klingt ganz gut. Am Telefon hatte Niklas einen Preis von 49€ für das Ein-Tagesticket genannt, aber jetzt wo wir angekommen sind, ist er nicht mehr so sicher. Er sei nur der Hafenmeister, aber er fragt mal bei den Organisatoren. Kurz darauf, wir genießen im Cockpit unser Anleger Bier, kommt er zurück mit vier blauen Bändern – er will 80€, allerdings für alle vier.
Der Hafen von Kõiguste liegt hinter einer ca. 100 Meter breiten Landzunge, ein natürlicher Wellenbrecher für eine große Bucht, und besteht aus zwei modernen Schwimmstegen. Auf der Landzunge steht ein modernes Restaurantgebäude, die Duschen und Toiletten sind edel. Die Website der Marina https://www.koigustemarina.com ist familiär gehalten, Külli und Niklas und ihre beiden Kinder betreiben Hafen und Campingplatz. Ein Schild informiert uns, dass sich die EU mit 9,3 Millionen Euro aus dem Regional Development Fund an einer Verbesserung der Infrastruktur für Segler in Estland und Lettland* beteiligt – Eure Steuergelder arbeiten hier für meinen Urlaub, Danke!
Das Kõiguste Festival 2023 wird von Freunden von Niklas organisiert und hat alles was man von einem Festival gewöhnt ist: Mehrere Bühnen, mehrere Bars, andere Aktivitäten, Food Trucks, eine informative Website in estnischer Sprache. https://koigustefest.ee/ Am Samstag sind mehr als 21 Acts auf dem Plakat aufgeführt; ich habe von keiner einzigen Band jemals gehört. Gut, einige der Acts sind DJs, und auch „Beer Pong“ entpuppt sich einfach als das Trinkspiel in einem kleinen Zelt, und keine estnische Band. Aber das ganze so entspannt. Ich bin nicht gut in Menschenmengen schätzen, aber vielleicht 500 Besucher insgesamt? Wahrscheinlich ist es wie bei Demos: die Organisatoren sprechen von zehntausenden Fans, die Ordnungshüter von 100 Teilnehmern. Wir holen uns als Grundlage einen Pulled-Pork-Burger, und genießen gleich mal vier Becher Bier auf der Terrasse des Restaurantgebäudes. Von der kleinen Bühne klingen die Silky Steps und machen gute Stimmung. Was es für uns noch entspannter macht, ist das wir keine Erwartungen an die Musik haben. Man hört halt mal zu, wenn’s nicht so taugt, gehen wir auf’s Schiff und hören es aus dem Cockpit. Also auch kein aufgeregtes Drängeln um einen guten Stehplatz für die Lieblingsband. So lassen wir um 21:30 Anett einfach mal anfangen, und gehen erst dann zur Bühne. Hört sich gar nicht so schlecht an. „Contemporary Soul Singer-Songwriter“, meint ihre Website. Wir stehen am hinteren Rand der Fans auf der Wiese, fühlen uns nicht bedrängt. Aus Spaß will ich mal sehen, wie nah man an die Bühne kommt, denn Anett hört sich wirklich gut an. Ohne irgendjemanden anzurempeln komme ich direkt an die Bühnenkante, wo ich dann Niklas treffe. Wir sind uns einig: Spontan auf diese Festival zu fahren war eine richtig gute Idee.
Um Mitternacht kommen dann die „Bedwetters“ (wie kann man sich nur einen so bescheuerten Bandnamen ausdenken? Die werden wahrscheinlich unterdurchschnittlich Merchandise verkaufen, wer will schon ein T-Shirt mit ‚Bettnässer‘ drauf?). Von den Bedwetters haben wir immerhin in Kuressaare schon ein YouTube Video geschaut – klingt nach recht hartem punkigen Sound. Auf der Bühne beweisen sie dann aber ein recht vielseitiges Repertoire, auch etwas Heavy Metal dabei. Am Ende haben wir die Option ‚wir hören einfach vom Schiff aus zu, weil es eh nicht so wichtig ist‘ kein einziges Mal gezogen, sondern brav vor der Bühne gestanden und am Ende laut Zugabe geschrien. Die letzte Band sind um 2:00 morgens die Jozels. Interessant, aber nicht so meines – so finden wir um drei Uhr morgens den Weg auf das Schiff zurück.
Was für ein toller Abend…
* Ich hab mal kurz recherchiert, solche EU Tafeln haben wir schon öfters gesehen, und ich wollte auch wissen, ob jetzt dieser eine Hafen 9,3 Millionen Euro abgegriffen hat, oder ob das die Summe des gesamten Projektes ist: zweiteres trifft zu. Und die Recherche ergibt auch, dass bislang fünf der ersten sieben Häfen auf dieser Reise Projektpartner sind. Sie haben auch die Reise von Girts auf die Bootsmesse finanziert. http://www.evak.ee/est-lat-harbours.html