Die Morgendämmerung zaubert die ersten Lichtflecken an den nächtlichen Himmel. Vor deren Hintergrund hebt sich langsam ein vertrautes Bild ab – vertraut, weil der Tempel von Ankor Wat sich auch auf der Nationalflagge Cambodias findet. Der Schatten dort, das könnte der Hauptturm sein. Es wird langsam etwas heller, und auch die anderen Teile des Tempels lassen sich erahnen. Insgesamt neun Türme dürften es sein, mit einer bemerkenswert einzigartigen Form. Durch die Perspektive wird man sie nicht alle sehen. Mittlerweile ist das beginnende Tageslicht so stark, dass man in dem See vor uns schon das Spiegelbild erkennen kann. Es nimmt den dunklen Silhouetten etwas von dem Bedrohlichen, immerhin sollten sie bei ihrer Erbauung die Macht des Khmer Reiches einschüchternd zum Ausdruck bringen. Langsam wandelt sich das fahle Licht der astronomischen Dämmerung zu dem Farbenspiel welches man mit Sonnenaufgängen in Verbindung bringt. Nuancen von lachsfarben, altrosa bis hin zu aprikotfarben erscheinen, eingerahmt durch die Türme von Angkor Wat. Der See ist im hinteren Teil mit Seerosen bedeckt, das Spiegelbild im vorderen Teil wird nur von wenigen Wasserläufern gestört. Das stärker werdende Licht der Sonne konzentriert sich, die Spannung bezüglich des genauen Ortes, wo die Sonne auftauchen wird, liegt spürbar in der Luft. Zwischen dem Hauptturm und den rechten Nebentürmen wandeln sich die sanften Pastelltöne der mittlerweile deutlichen Dämmerungen zu immer kräftigeren Orangetönen. Hier wird sie wohl erscheinen. Und dann, lange erwartet aber doch fast überraschend, schiebt sich die Sonnenscheibe über die Wände von Ankor Wat wie das Gesicht eines neugierigen Kindes. Die Sonne strahlt wieder auf das Reich der Khmer.
So war’s. Wirklich. Na gut, bis auf die Sonne, die hatte sich hinter Wolken versteckt, und ich habe sie von einem vorherigen Aufgang in den Text einkopiert. Das ist also V 1.0. Aber es war auch so – V 2.0:
Das Mobiltelefon klingelt. Es ist 4:15. Scheiße, ich hab doch Urlaub. Muss das sein? Es muss. Ich habe es selber angeregt, gestern Abend bei Bier mit Caroline und Graeme, die ich von Don Det kenne. TucTuc und Führer zum Sonnenaufgang. Um 4:45 CMT werde ich abgeholt. Cambodian Maybe Time, denn wir werden alle zur gleichen Zeit abgeholt, obwohl wir in unterschiedlichen Unterkünften wohnen. Ein paar versprengte TucTuc-Fahrer bieten Ihre Dienste an, machen dann Smalltalk bezüglich der Kälte (es hat nur 15°). Zur Untermalung beginnen sie, sich erwärmend, auf- und abzuspringen. Um 4:55 kommt der fahrende Untersatz, bereits mit Caroline, Graeme und einem lizensierten cambodianischen Touristenführer, dessen Namen ich mir mit Chai merke, wie der chinesische Tee. Wir sind zwar nicht die einzigen auf der Straße, aber doch so selten, dass wir uns exklusiv vorkommen. Das ändert sich nach zweimal Abbiegen. Hier ist Völkerwanderung. Die gesamte Breite der Straße ist besetzt. TucTucs überholen Fahrräder, Mopeds überholen TucTucs, Minibusse überholen Mopeds, und Autos überholen Minibusse. Mir kommt ein Bild in den Sinn: Wie Spermien, auf dem Weg zum Ei. Touristen-Spermien auf dem Weg zum Kultur-Ei. Die Spermien müssen noch kurz eine Eintrittskarte kaufen, Three-day-pass mit Lichtbild, und weiter geht’s in wilder Hatz. Um bei dem Bild zu bleiben: wir hätten das Ei wohl nicht befruchtet. Wir schieben uns in morgenmuffliger Masse über die Brücke über den Wassergraben. Das unebene Pflaster beleuchtet unser Guide mit einer Taschenlampe, die deutschen Touristen erkennt man an ihren Everest-Expedition-Stirnlampen. Wir werden zum Sunrise-Beach geleitet, ein völlig niedergetrampelten Bereich an einem Tümpel im Nordwesten des Tempels. Graeme nimmt das Angebot einer fliegenden Händlerin über einen heißen Kaffee an, und bekommt eine undefinierbare lauwarm Brühe. Obwohl ich wirklich saustoltz über mein frühes Aufstehen bin, hier reicht’s nur für die vierte Reihe. In erster Reihe asiatische Touristen mit teuren Kameras auf schweren Stativen. Ich könnte kotzen, ein Gefühl was ich mit meinen Begleitern, und eigentlich allen Touristen, die auf der Suche nach ihrer persönlich-einzigartigen Erfahrung sind, teile. Die Asiaten vor uns experimentieren damit, vor ihrer Langzeitbelichtung langsam eine Pappkarte (ein mattschwarzes Fotografiezubehörteil, Entschuldigung) vor dem Objektiv nach oben zu ziehen. Theoretisch fällt somit mehr Licht auf den dunklen Teil des Fotos unten. Ich vergnüge mich derweil, die fotografierenden Massen zu fotografieren, bessere Fotos vom Sonnenaufgang wird’s wohl in jedem Bildband geben. Die Stimmung erinnert uns eher an die ‚Ich-will-ganz-vorne-sein-Fans‘ an einem XXXX-Konzert (XXXX für mich: Stones oder Springsteen, für andere Robbie Williams, für andere Britney Spears oder Lady Gaga, je nach Generation). Mein Interpersonal-Highlight: ich erkläre einer attraktiven deutschen Touristin einige Funktionen ihrer teuren Kamera. Gigabyteweise werden hier Zeitdokumente erschaffen. Tatsächlich versteckt sich die aufgehende Sonne hinter Wolken, insofern ist V1.0 mit etwas künstlerischer Freiheit behaftet. Als wir überzeugt sind, dass es nicht mehr besser wird, machen wir uns auf, dem Tempel per se zu erkunden. Wir wischen die Überlegung unseres Guides beiseite, erst einmal zu frühstücken – wir haben eine Mission. Als wir auf der anderen Seite des Tempels sitzen, wird’s tatsächlich etwas mystisch. Die meisten Touristen schwirren noch woanders rum (vielleicht beim Frühstück?), und die Anlage ist wirklich toll proportioniert und beeindruckend. Ca 1100 n.Chr. erbaut. Wow.
Anfangs sind wir von unserem Führer enttäuscht, er wirkt genauso morgenmuffelig wie wir, wird aber nicht dafür bezahlt, still zu sein. Jetzt aber läuft er zu Hochform auf. Die zweite (innere) Ebene des Tempels wird von historisch wertvollen in Stein gehauenen Bildern von Prozessionen geschmückt. Jede ist bedeutsam, stellt ein anderes historisches Ereignis aus der Gründungszeit des Khmer-Reichs dar, und Chai kennt sie alle. Wir wechseln uns ab, ihm interessiert zuzuhören, ich verliere bald den Faden. Ich hab ja insgesamt drei Monate Südostasien zu absolvieren, und die haben sich hier alle irgendwann gekloppt, und ALLE haben irgendwo und irgendwann gewonnen. Wenn nicht, dann gibt’s halt deren Tempel nimmer, Fall erledigt. Nachdem wir ca. ein Drittel des Tempels umrundet haben, drängen wir ins Innere, erklimmen den zentralen Turm bis zur oberen Aussichtsplattform – wahrscheinlich haben die Erbauer das auch nicht als Aussichtsplattform geplant, eher sollte hier oben ein spirituelles Zentrum sein. Mag sein, aber könntet ihr da hinten bitte aus dem Weg gehen, damit ich diesen Steinhaufen auch fotografieren kann?
Die Anlagen um Angkor stellen den Mittelpunkt des ehemaligen Khmer-Reiches dar. Nur für Götter gab’s damals Steingebäude, aber offensichtlich war das Gebiet zu Beginn des letzten Jahrtausends eine blühende Millionenstadt, zu einer Zeit, als in London nur 50.000 Einwohner hausten. Graeme ist leicht beleidigt, er wohnt dort. Na ja, München gab’s gar nicht. Die meisten Khmer Herrscher errichteten einen eigenen Steintempel während ihrer Herrschaft – wer baut, der bleibt. Viele waren ursprünglich hinduistisch, wurden dann zu buddhistisch konvertiert, Vishnu, Brahma, Buddha, Elvis, allen wird hier irgendwie gehuldigt. Wir ziehen weiter, besuchen den Bayontempel in der Angkor Thom Anlage. Deutlich schlechter erhalten, ist dessen Höhepunkt die Gesichter, die auf verschiedenen Säulen und Stupas festgehalten sind. Offensichtlich sehen sie überraschenderweise dem damals herrschendem König ähnlich. Auch hier – Touristen, Touristen, Touristen. Viele davon sind asiatisch, und ich kann sie nicht auseinanderhalten. Chinesen, Koreaner, Hong-Kong-Chinesen, Singapur-Chinesen, Japaner. Alle fotografieren wie wild um sich, und sie lieben ‚Selfies‘, also Fotos von sich vor einem beliebigem historischen Monument. Caroline und mir wird’s langsam zu bunt, und Graeme muss sich Chais Ausführungen zu bedeutsamen Skulpturen anhören – schließlich hat er den Guide gebucht, wenn auch auf meine Anregung hin. Tatsächlich beginne ich mit Caroline Photo-Bombing Fantasien zu entwickeln, möglichst vielen Anderen durch’s Foto zu laufen – die freundliche Zurückhaltung, zu warten bis der Andere sein Foto hat, haben wir schon länger abgelegt. Als Vorstufe eine Studie: stolen Fotos – andere Touristen in dämlich Posen. Dennoch – wenn man sich die Touristen wegdenkt, und ja, wir gehören ja auch dazu, ist es wirklich beeindruckend.
Noch ein Tempel in Angkor Thom, und danach geht’s weiter nach Ta Prohm. Den Namen musste ich extra nachgucken, mittlerweile ist er allen als der Tomb-Raider Tempel bekannt. Hier hat Angelina Jolie wohlproportionierte Beine und erhebliche Oberweite in einem mystischen, von Bäumen überwachsenem Tempel auf der Suche nach irgendwelchen Schätzen zur Schau getragen. Ich habe den Film noch nie gesehen, aber trotzdem wird einem schnell klar, wo hier die wichtigsten Szenen gedreht wurden. Es bilden sich Schlangen vor durch Wurzelwerk eingerahmten Durchgängen, jeder lässt sich in authentischer Pose fotografieren. Ein Inder beginnt verkehrsregelnd einzugreifen – bitte ordentlich anstellen, nur ein Foto auf einmal, nicht drängeln.
Wir haben den TucTuc für den ganzen Tag gemietet ($15), den Führer nur bis mittags ($30). Kerngedanke: bis mittags Profi-Wissen abgreifen, danach billig auf eigene Faust. Wir erkennen die Absurdität dieser Idee. Um 13:00 sind wir unterhopft und übertempelt. Immerhin schon seit neun Stunden auf den Beinen. Also zurück nach Siem Reap, ein paar 50 cent beers, und dann ein Nickerchen.
Am nächsten Tag mache ich mich alleine auf die Socken: Caroline muss sich länger als ich vom Vorabend erholen, und Graeme hat am späten Nachmittag einen Bus an den Strand. Also buche ich für den Nachmittag mein Solo-TucTuc, und lasse mir vom Hotel weitere vier Tempel empfehlen. Intensiveres Lesen des Reiseführers hätte eine andere Reihenfolge vorgeschlagen. Tatsächlich können diese vier überragenden Denkmäler der uralten Hochkultur nicht gegen die vom Vortag anstinken. Und still zu sich selber zu lästern macht weniger Spaß als mit Caroline. Also ein paar wohlgemeinte Fotos, Zeitraffervideos von Touristen, und auf zum nächsten Tempel. Der Trubel ist nicht so überwältigend, aber einige Merkmale finden sich immer wieder: Kinder verkaufen Postkarten und handgewebte Schals oder Gewänder. An vielen Tempeln finden sich Kapellen, die traditionelle Khmer-Musik spielen. Die Musiker, so beschreibt das Hinweisschild, sind allesamt Opfer von Landminen. Die am übelsten zugerichteten sind strategisch vorne positioniert, wie auch der Blinde mit den gespenstisch leeren Augen. Mein Programm endet mit dem offiziellen Sunset-Tempel. Der Andrang kann einem Angst machen. Äffchen erbetteln Lebensmittel; unfitte/faule/reiche Touristen lassen sich mit Elefanten auf den Hügel tragen, und unterhalb des Tempels drängen Park-Offizielle Touristen zu ordentlich Schlangen, um das spätere Besteigen des Tempels zu vereinfachen. Gefühlte zweitausend Touristen sitzen und stehen auf dem glücklicherweise recht flachen Tempel, und starren gebannt über die Ebene um Siem Reap auf die untergehende Sonne. Siehe V1.0, aber von hinten lesen. Und so endet mein Besuch bei den Tempeln von Angkor wie er begonnen hat: mit einem sonnenbezogenen Tagesrandereignis unter dem Eindruck massiver touristischer Präsenz.
Klingt trotzdem so, dass man das gesehn haben will.
In Europa wie Venedig, Rom oder Florenz das gleiche: Voll aber dochntraumhaft schön und oft schaut man sich am nächsten Tag besser nochmal das Highlight des Vortages an als was ganz Neues.
Die Würdigung ist durch regelmäßigen Chillout deutlichnzu erhöhn.
Aber mannwird doch wohl auch in Angkor X sehr schöne Plätze ohne oder mit wenig Touris finden, oder?
Das ist das tollste in den genannten Orten. Geschichte und Stil ohne Auflauf findet man auch…
Warst Du dann eigentlich gar nicht am Strand?
Es gibt sicher auch welche mit weniger Auflauf, aber die stinken halt gegen die wichtigen nicht an. Da brauchste aber Zeit für, denn die überlaufenen auszulassen ist keine Option.
Strand? Ich war am (von mir so betitelten) Sunrise Beach, aber das ist halt das Ufer eines fußballfeldgroßem Teiches. Richtig Strand ist erst in Thailand vorgesehen.