Bei meinen bisherigen Segelreisen spielten Ebbe und Flut keine große Rolle. Weder im Mittelmeer noch in der Ostsee überhaupt spürbar; in anderen Bereichen zwar spürbar, aber nicht sooo relevant; und die eine Reise über die Nordsee, da haben wir uns hauptsächlich damit beholfen, den Hafenmeister nach dem geeignetem Zeitpunkt zum Auslaufen zu fragen.
Kurz zur Theorie: Ebbe und Flut werden hauptsächlich durch die Anziehungskraft des Mondes erzeugt. Bildlich zupft der Mond das Wasser an der Stelle der Erde, wo er gerade steht, nach oben (Flut), auf der anderen Seite müsste dann das Wasser fehlen (Ebbe). Fast. Tatsächlich tanzen Erde und Mond um einen gemeinsamen Mittelpunkt (der nur in der Nähe des Erdmittelpunkts ist), an der mondabgewandten Seite treibt es das Wasser mit der Zentrifugalkraft auch aus (ebenso Flut). Dadurch ergibt sich ein Zyklus von ungefähr 24 Stunden und 49 Minuten, und in der Zeit hat es zweimal Hoch- und Niedrigwasser. Dann gibt es aber noch die Sonne. Stehen Sonne, Erde und Mond in einer Linie (bei Vollmond oder Neumond), dann fallen Ebbe und Flut heftiger aus (Springtiden), bei Halbmond weniger (Nipptiden). Übers Jahr hinweg gibt es dann noch besonders krasse Springtiden, weil die Umlaufbahnen etwas elliptisch sind – ach wisst Ihr was, guckt doch einfach auf Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Gezeiten
Eigentlich begann es in der Straße von Gibraltar. Der Atlantik ist groß genug, dass das Wasser hin- und herschwappen kann, und manchmal will es halt ins Mittelmeer, und dann wieder raus. Der Revierführer gibt Auskunft, wann die beste Zeit für welche Richtung ist. Schon in Cadiz, der erste Hafen im Atlantik waren die Anlegemöglichkeiten plötzlich ganz anders. Nicht mehr an einen festen Betonsteg, sondern Schwimmstege mit Fingern in einem großen Becken. In dem Becken sind große Stempen in den Boden gerammt, die Stege steigen und senken sich mit der Flut, vom Schwimmsteg kommt man mit einem beweglichen Steg an festes Land. Das Boot ist in dem Winkel zwischen Hauptsteg und Finger zumindest von zwei Seiten fixiert, das reicht. In Cadiz waren der Unterschied zwischen Spring-Hochwasser und Spring-Niedrigwasser (ca. 6 Stunden) ungefähr 2,5 Meter. Häßlich, wenn man sein Schiff bei Hochwasser fest an einer Beton-Hafenmauer angebunden hätte, aber insgesamt noch recht moderat.
Im Ärmelkanal wird es etwas krasser: insgesamt eher flach, und wenn hier das Wasser bei Ebbe mal schnell versucht, einen Meter im Atlantik zu ersetzen, dann wirkt sich das stärker aus. In St. Malo (wo wir am 2. August waren), hat es Tidenhübe von bis zu 12 Metern. Um also unser Boot mit 2,1m Tiefgang zu beherbergen, muss das Hafenbecken und die gesamte Zufahrt also bei Flut fast 15m tief sein – das hat sich nicht überall gelohnt, besonders nicht für Sportboote. Viele Häfen behelfen sich also mit Tricks: Es gibt Tore, die nur bei genügend hohem Wasser geöffnet sind. Es gibt Schwellen, wo das Hafenbecken bei Ebbe genau das ist: Ein Becken, und außerhalb ist trockenfallender Watt. Es gibt auch trockenfallende Häfen, wo das Schiff bei Ebbe halt einfach im Schlamm liegt, aber das trauen wir uns noch nicht. Auch die ‚Mittellinie‘ der Häfen ist unterschiedlich. Es gibt manche Häfen, da steigt bei Nipp-Hochwasser das Wasser für einige Tage im Monat nie genug, dass man überhaupt rein- oder rauskommt, andere sind nur bei Spring-Niedrigwasser nicht erreichbar. Neben den Wasserhöhen entstehen natürlich auch signifikante Strömungen – wenn sich 12m Wasser aus der Bucht von St. Malo verdrücken, gibt es ordentlich Strömung in dem häufig ungefähr 30 Meter tiefen Meer.
Seekarten (und unserem Kartenplotter) sind übrigens in der Regel auf ‚mittleres Spring-Niedrigwasser‘ bezogen, man kann also in den meisten Fällen davon ausgehen, dass mindestens so viel Wassertiefe an einem bestimmten Ort sind. Bereiche, die immer über Wasser sind, werden gelb-orange gekennzeichnet, trockenfallende Bereiche ein sumpfiges grün, sehr flaches Wasser dunkelblau, zwischen 5 und 10 m tiefes Wasser hellblau, und immertiefes Wasser ist einfach nur weiß. Erst nach einer Woche in der Bretagne stellen wir übrigens fest, dass unser Kartenplotter Tiden und Strömungen berechnen kann, und sie sogar animiert auf der Karte darstellen kann.
Wie wirkt sich das praktisch auf unsere Segelei aus?
- Bei Niedrigwasser ist der Übergang vom Schwimmsteg zu ‚terra firma‘ manchmal recht steil, aber hallo.
- Aus unserer Mittelmeer-Erfahrung ist alles, was auf der Seekarte nicht weiß ist, potenziell gefährlich. Dass bei Hochwasser auch der hellblaue Bereich noch locker 15 Meter Wassertiefe hat, also völlig unkritisch ist, kommt nicht sofort ins Bewusstsein. Und dass es Zeiten gibt, wo man auch über die sumpfgrünen Flächen segeln könnte – das ist spontan völlig gegen meine Ausbildung. In der Praxis fährt man also einen Umweg um die Stelle, während ein Pulk von Segelbooten einfach die ‚Abkürzung‘ nimmt.
- Bestimmte Häfen kann man nur zu bestimmten Zeiten (vor und nach Hochwasser anlaufen). Praktisch kann das Fenster recht groß sein, aber noch fehlt uns die Routine, entspannt auszurechnen, dass dieser Hafen auch bei Nipp-Niedrigwasser noch tief genug ist. Zur Sicherheit denkt man: nur bei Hochwasser anlaufen (oder auslaufen), und das ist halt zweimal am Tag. Also zB entweder um drei Uhr morgens oder 15:25. Das schränkt die Planung ein. Es gibt auch noch genügen 24-Stunden Häfen an der Küste, zur Sicherheit nimmt man die lieber.
- Die Strömung kann ganz erheblich sein, besonders an markanten Kaps oder ähnlichem. Auf dem Weg nach Cherbourg stellen wir irgendwann fest, dass wir eine Gegenströmung mit 2,5 Knoten haben. Wenn dann noch nur milder Wind ist, segelt man was geht, nur um nicht rückwärts zu fahren. Die Strömungen machen auch unsere Planungen kaputt. Die Faustformel ‚5 Seemeilen in der Stunde‘, die uns im Mittelmeer immer gut gedient hat, funktioniert einfach nicht. Und manche Strecken sind so lang, dass man sie nicht sinnvoll abpassen kann, denn innerhalb eines 12-Stunden Fensters hat man sowohl volle Strömung gegenan, als auch volle Strömung von hinten (dann allerdings freut man sich – bei lauem Wind trotzdem 8 Knoten über Grund – geil!). Und in der Kombination mit Hafenöffnungszeiten wird’s nochmal schwieriger: Also – wir müssen um 11:00 in St. Malo auslaufen, um über die Schwelle aus dem Hafen zu kommen, haben dann aber erstmal sechs Stunden Strömung von vorne – blöd.
Aber langsam werden wir besser, und nebenbei besprechen wir unsere Pläne auch gerne mal mit anderen Seglern im Hafen, die da mehr Erfahrung haben. Die Herdenerfahrung führt dann aber auch dazu, dass zB um 11:00 +/- 30 Minuten fast die Hälfte der Boote den Hafen verlässt, um in eine bestimmte Richtung zu fahren. Das ist dann wie ein Impromptu Regattastart, und leider ist die Seestern kein schnelles Schiff; frustrierend.
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