Am nächsten Morgen, pünktlich um neun, steht der handwerkende Seebär vom Vortag wieder am Schiff. Der Inhalt des Dieseltanks muss abgepumpt werden, der Tank gereinigt werden und das Diesel gefiltert. Er beginnt mit seiner Anamnese – der Tank ist recht voll, der Zugang nur durch die ca. 10 cm große Öffnung des Tankgebers möglich, wir haben keine leistungsfähige elektrische Dieselpumpe zur Verfügung. OK, er weiß Bescheid, muss nur kurz in seine Werkstatt fahren, um ein paar Sachen zu holen. Nach ca. 30 Minuten ist er wieder da, mit sechs großen 30 Liter Kanistern und einer elektrischen Pumpe, die für Diesel geeignet ist. Wo habt Ihr denn hier 230V Strom? Bedauerlicherweise sind wir an einem Steg angelegt, der eigentlich nur kurzfristig zu nutzen ist, und deshalb keine Landstromversorgung hat – und unsere Verlängerungskabel reichen nicht bis zum nächsten Steg. Kein Problem, er holt eine Kabeltrommel. Derweil erkunden wir in Schichten die Insel, also jeweils zwei bleiben am Schiff, der Rest bummelt über Norderney. Insgesamt fährt der Handwerker mehrmals zu seiner Werkstatt, braucht dabei jeweils zwischen 30-60 Minuten: Nach der Kabeltrommel fehlt eine kleine Pumpe, um die letzten 15 Liter abzusaugen; dann Bremsenreiniger zum Säubern des Tanks; dann ein Stückchen Schlauch, um den Bremsenreiniger auch in die entlegeneren Ecken des Tanks zu sprühen; dann ein Stückchen Draht, um den Tankgeber wieder zu montieren. Gegen fünf sind alle Arbeiten fertig, der Diesel wurde gefiltert und wieder eingefüllt – aber nach Helgoland fahren wir heute nicht mehr.
Während wir am Schiff auf den Techniker warten, diskutiere ich mit Frank über das Konzept „eigene Yacht“. Bislang hatte ich mit dem Gedanken nicht intensiver beschäftigt; spontan sprachen aus meiner Sicht folgende Punkte dagegen:
• Kosten – ich war immer überzeugt, dass die Schiffe, die ich mir leisten könnte, winzige Nussschalen sein würden, und Schiffe in der Größe, wie wir sie meistens charterten, preislich absolut indiskutabel wären.
• Die Ferienhaus-Problematik – Auch ohne es weiter in Frage zu stellen, war meine spontane Vorstellung der eigenen Yacht immer, dass sie zB in einem Hafen in Kroatien liegt, und man dann immer wieder hinfährt. Jeden. Urlaub. Wieder. Was haben wir’s da mit Chartern gut: Mal Schweden, mal Thailand, mal Karibik.
• Fahren statt Putzen – auch wenn man meistens 100-150€ für die Endreinigung zahlt, man bekommt das Schiff geputzt und (theoretisch) technisch einwandfrei übergeben, und hinterlässt es … es wird ja geputzt. Also verliert man keine Minute seines wertvollen Urlaubs.
• Qualität – Im Charterbetrieb haben wir meistens Yachten der preiswerteren Massenhersteller gehabt – Bavaria, Beneteau, Jeaneau. Aber mit so einem Joghurtbecher über den Atlantik – wäre mir da wohl dabei? Und an Ausrüstung bräuchte man sicherlich noch total viele Sachen, wie Rettungsinseln, aufwändigere Kommunikationstechnik.
Zusammengefasst also zwei Bereiche – ein vernünftiges Schiff wäre zu teuer, und mit einer klassischen ein-paar-Wochen-Urlaub-im-Jahr Freizeit auch nicht sinnvoll. Die Najad 343, auf der wir sitzen, bringt das erste Bild etwas ins Wanken. Zwar ist das Schiff deutlich kürzer, als ich bislang akzeptabel fand, aber es wirkt nicht so. Die Innenaufteilung ist praktisch, man würde zu sechst Platz finden, das Schiff ist zwar schon bald 30 Jahre alt, aber die Verarbeitungsqualität ist hervorragend, und wirkt vertrauenserweckender als manche fünf Jahre alte Bavaria. Dann bringt Frank noch die Idee ins Spiel, dass er sich überlegt, ein einjähriges Sabbatical zu machen, um mal wirklich länger zu segeln. Ich bin ja selbstständig – Ihr merkt’s, da hat sich gerade eine Idee eingenistet.
Am nächsten Morgen springt der Diesel einwandfrei an, und läuft auch ein paar Minuten ohne Probleme. Wagen wir es? Mit Respekt verlassen wir den Hafen, tuckern an die Nordseite der Insel und setzen die Segel – next Stop Helgoland. Die See ist heute ruhiger, es bläst ein beständiger achterlicher Wind, eigentlich ideal für den Blister, den Peer Gynt an Bord hat. Aber ich glaube, ich habe mich seelisch von meinem Halb-bad in der Nordsee noch nicht ganz erholt; habe keine Lust jetzt mit einem neuen Segel zu experimentieren, und lege mit meinem Unwillen das Fundament für einen längerfristigen Running Gag – jedes Mal, wenn wir seitdem überlegen, ob wir ein bauchiges Vorsegel heißen, wird dieser Tag referenziert.
Da wir die Gezeiten berücksichtigen mussten, als wir Norderney verließen, wird es schon dunkel, als wir an der Ostkaie des Südhafens von Helgoland festmachen – und natürlich, weil wir ohne Blister nicht so schnell voran kamen. Mit dem obligatorischen Anlegeschluck ist es somit schon etwas später, als wir in die bunte Kuh einlaufen – eine traditionsreiche Kneipe in den witzigen bunten Helgoländer Häusern. In der Dunkelheit laufen wir noch ein wenig herum – schade, dass wir nicht länger bleiben können, aber der Schlag zum Nord-Ostsee-Kanal morgen ist eher lang.
Am nächsten Morgen sind wir früh auf den Beinen – wir wollen unsere Überlegungen noch einmal mit dem Hafenmeister besprechen, um etwas lokale Erfahrungen zusätzlich zu unseren Tidentafeln zu haben. Er lacht, als wir erklären, so um zehn losfahren zu wollen: „Das könnt Ihr schon machen Jungs, aber dann kämpft Ihr einige Stunden gegen das ablaufende Wasser in der Elbmündung, und kommt mir Eurem Schiffchen gar nicht voran. 14:00 reicht locker, dann spült Euch die rückkehrende Flut förmlich die Elbe hinauf – ihr werdet staunen, wie schnell das geht.“ Also haben wir plötzlich Zeit für ein gemütliches Frühstück in der Stadt und eine Klippenwanderung, bevor wir uns wieder auf den Weg machen.
Auf der Fahrt sind dann wirklich alle Naturgewalten uns wohl gewogen. Wind, Welle, Flur und Strömung kommen von hinten, die GPS Geschwindigkeit liegt weit über dem, was die Peer Gynt aus eigener Kraft schaffen würde. Aber die Wellen sind noch recht ordentlich, immer wieder erfassen sie das Heck der Yacht, und man muss kräftig steuern, damit die Yacht die Welle ‚heruntersurft‘, und sich nicht querlegt. Wie schon an den Tagen zuvor stellen Frank und ich fest, dass ein etwas größeres Boot wahrscheinlich ruhiger fahren würde.
Der Ideen-Keim ist etwas gewachsen, wir überlegen mittlerweile schon, was für ein Schiff wir denn bräuchten, wenn wir wirklich eines wollen würden. Schön an der etwas kleineren Peer Gynt ist, dass sie sich leichter ‚aus der Hand‘ fahren lässt. In den meisten Fällen kann man das Schiff beim Anlegen mit der Hand halten, und es auch mal mit einem kräftigen Zug zum Steg ziehen; ein kleineres Schiff kann man also mit einer kleineren Mannschaft besser fahren. Auch ist vieles auf dem Schiff, was Geld kostet, kleiner und damit billiger, auch zB Hafenliegegebühren richten sich nach der Länge. Ein längeres Schiff hingegen wird bei Wellengang ruhiger sein, verspricht auf dem weiten Meer also mehr Sicherheit, nebenbei hat man mehr Platz für Gäste und Bier. Und: Länge läuft, ein größeres Schiff wäre also schneller ?. Darüber werden wir noch länger diskutieren, aber auf eine Rahmenbedingung haben wir uns schon fast geeinigt: Es wird ein älteres Schiff eines Premiumherstellers sein, da hoffen wir, dass sich der Wertverlust in Grenzen hält.
Wir erreichen das betonnte Fahrwasser der Elbe, auch wir halten uns an diese ‚Straße‘ durch’s Wasser. Auf beiden Seiten – informiert die Seekarte – können sich die Tiefen häufig ändern, und bei Ebbe teilweise trockenfallen. Aktuell sieht man davon nichts, und auch als wir später Cuxhaven passieren erkennt man noch nicht einmal das nördliche Ufer der Elbe. Das Fahrwasser teilen wir uns mit richtig großen Pötten, da fährt man möglichst präzise am Rand um denen nicht in den Weg zu kommen. (Viele von Euch wissen es schon: Ein Segelboot verhält sich zu einem Riesenfrachter nicht wie ein Sportwagen zu einem LKW. Da ‚Länge läuft‘, kann der Tanker locker 3-5 mal schneller fahren als wir, nur nicht bremsen.) Als wir uns Brunsbüttel und dem Eingang zum Nord-Ostsee-Kanal nähern, beginnt es zu dämmern. Das war so nicht geplant. Zwar sind hier alle Schiffe ordnungsgemäß beleuchtet, aber es hat auch viel Verkehr, und Brunsbüttel liegt auf der Nordseite der Elbe; wir müssen also mit unserer Nussschale auf die andere Seite. Schon irgendwie eine Herausforderung – wie lange werden wir wohl brauchen, um die Elbe zu queren, gibt’s dabei irgendwelche unerwarteten Strömungen? Das große Schiff hinter uns, klar, das lassen wir noch vorbei, aber was kommt uns da entgegen? Mittlerweile ist es recht düster, wir erkennen eine rote Positionslampe, also sehen wir seine Backbordseite, und es hat zwei ‚Dampferlichter‘ also dürfte es über ?? Meter lang sein. Aber die wirkliche Größe, Geschwindigkeit und Richtung ist schwer abzuschätzen. Wir nehmen unser Herz in die Hand und fahren mit Vollgas (Das Segel haben wir mittlerweile eingeholt) in die ‚Wartezone für Sportboote‘. Der große Entgegenkommer war weit genug weg, alles gut.
Mittlerweile haben wir mit der Schleuse per Funk Kontakt aufgenommen. Eigentlich einfach, aber die ganzen Schifffahrtprofis da draußen hören mit. Und auch wenn’s mir wurscht sein sollte, ich will nicht, dass die alle merken, dass wir das zum ersten Mal machen. Aber der Schleusenwärter (eigentlich: Verkehrszentrale NOK) meint: „Kein Problem, ich mache Euch die südliche Schleuse auf, fahrt einfach rein“. Los geht’s, wir setzen Kurs auf die Schleuse, oder jedenfalls dorthin wo wir sie vermuten. Mittlerweile ist es stockdunkel, die Seekarte gibt zwar Auskunft darüber, welche Lichter sie beleuchten, aber in solchen Situationen erkennt man immer den Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Ist das weiße Licht dort das Einfahrtsignal, oder doch nur eine Straßenlaterne auf der Uferpromenade? Um die Spannung zu erhöhen, beschließt der ipad, der unsere elektronische Karte ist, mal ein paar Minuten keine neue Position zu erkennen. Auch Wind und Welle sind auf einmal ganz anders, jedenfalls für uns. Auf der Fahrt die Elbe hoch kam alles von hinten – Wind, Welle und Strömung. Im Cockpit ist das sehr entspannt – der wahre Wind und der Fahrtwind heben sich ein wenig auf, die Wellen plätschern sanft gegen das Heck. Aber für das kurze Stück zur Schleuse müssen wir gegenan. Zu allem Überfluss regnet es mittlerweile recht heftig. Immer wieder taucht der Bug der Peer Gynt in die kleinen, ruppigen Wellen, Wind und Fahrtwind addieren sich und blasen die aufkommende Gischt nach hinten über das ganze Schiff. Wer einmal das Boot gesehen hat – die Szene wo sie bei Sturm im Turm stehen, und der 2. WO bei jeder überkommenden Welle manisch lacht – der hat jetzt ein gutes Bild. Die Kombination aus „wo sind wir“ (streikender ipad), „wo müssen wir hin“ (ist das Licht da vorne jetzt die Schleuse, oder was anderes) und „fahren wir überhaupt“ (könnte auch sein, dass uns Strömung und Wind nach hinten treiben) sorgt für einige Minuten mangelnde Entspanntheit. Aber dann wacht der ipad wieder auf, die Beleuchtung der Schleuse sieht plötzlich genau so aus, wie auch auf den Skizzen, und wir fahren in die offenen Schleusentore ein. Schlagartig ist der Spuk vorbei, als würde man aus einem Sturm in die Garage fahren. Die 10,70m lange Peer Gynt fühlt sich in der 310 Meter lange Schleuse sehr klein an. Direkt hinter der Schleuse ist ein kleiner Sportboothafen, saisonbedingt fast leer, wir legen an, und eine Last fällt von uns. Jetzt wäre ein Bier und was zu essen gut. Brunsbüttel um zehn Uhr abends ist keine pulsierende Metropole. Mit Glück finden wir noch einen Chinesen, der uns noch etwas kochen wird. Eine heiße Suppe – jaaaa. Dann auch noch etwas Tee neben dem Bier, und eine große Portion europäisiertes Schweinefleisch Süß-Sauer. An einem normalen Tag hätte ich den Laden wahrscheinlich nicht mit dem Arsch angesehen, heute ist es ein Tempel.
Am nächsten Morgen muss Frank abreisen, da er am Sonntag auf eine Dienstreise muss, aber Ramsi, Christian und ich fahren noch etwas auf dem Nord-Ostsee-Kanal weiter. Wegen der Verzögerung mit der Dieselpest haben wir den Plan geändert, und fahren nun doch nur bis Rendsburg statt nach Kiel, aber die Marina dort ist immerhin erheblich günstiger. Am Sonntag schwingt sich Christian in den Zug nach München, und Ramsi fährt mich mit einem Mietwagen nach Hamburg. Um 16:30 komme ich im Hotel an, eine halbe Stunde später schlafe ich tief und fest. Ob ich an diesem Nachmittag von einem eigenen Schiff träume, das weiß ich nicht mehr – aber die Reise hat sicherlich den Traum geweckt.