Sylvester in Saigon

Ein Raunen geht durch die Menge, und alle blicken nach Osten die Duong Ham Nghi hinab. Ich drehe mich schnell um, und sehe gerade noch die Reste der ersten Rakete des Feuerwerks. 2013 ist wohl fertig. Wir stehen am Cong Truang Quach Thi Trang, einem zentralen Kreisverkehr im 1. Distrikt von Ho Chi Minh City. Vor 20 Minuten waren wir aufgebrochen, wollten möglichst an den Fluss, um das Feuerwerk zu genießen. Dass wir 500 Meter weit gekommen sind, ist in Anbetracht der Menschenmassen fast schon überraschend. Der großzügige Kreisverkehr bietet noch ein knappe Spur Platz für motorisierte Fahrzeuge, ansonsten stehen hier Vietnamesen, Vietnamesen, Vietnamesen und Vietnamesen mit deren Mopeds. Es ist gespannt ruhig… zu ruhig. Es wird sich nicht viel unterhalten, es gibt keinen Countdown zum neuen Jahr. Wir bereiten uns psychisch auf das neue Jahr vor. Champagner: Fehlanzeige. Klirrende Kälte: Fehlanzeige. Gute Vorsätze: Quatsch, wir wollen doch realisitisch sein. Also in dem Jahr mal anders.  Wir, das sind Franziska aus München, ihre Freundin Daria, die sich mutig der Herausforderung Vietnam stellt, Carol aus Zürich, und der bescheidene Autor dieser Zeilen. Wir wünschen uns ein tolles neues Jahr 2014; Umarmungen, Bussi. Die Vietnamesen haben das nicht nötig. Das Feuerwerk ist nun im vollen Gang, ich schätze wir sehen das linke Drittel davon durch die Häuserschlucht in Richtung Fluss. Nett, aber offensichtlich will man sich hier ein wenig von China distanzieren, und etwas dezenter sein. Wir versuchen Stimmung zu machen: „Aaaahs“ und „Oooohs“ bei entsprechenden Funkelregen. Wir amüsieren ein paar Vietnamesen neben uns, können aber auch hier keinen allgemeinen Trend starten. Na gut. Ein paar der Locals haben Dosenschnee gekauft, schneien sich gegenseitig voll. Als ich sie dabei filme, werden auch wir eingeschneit – Ha! 25°C und Schnee – ihr habt in Deutschland keines von beiden! Nach ca. 20 Minuten signalisiert ein besonders prächtiger Sternenregen das Ende des Feuerwerks. Haken dran, tausende Mopeds werden angelassen, und setzen sich in Bewegung. Vielleicht war unsere Standortwahl mitten auf dem Kreisverkehr nicht so schlau. Wir geben Fersengeld, und retten uns ans Ufer.

Der Verkehr in Saigon ist allgemein sehenswert. ‚Quirlig‘ wäre so ein spontan in den Sinn kommendes Adjektiv. Der Verkehr transportiert die Vitalität der Stadt optisch und akustisch. Das ist also asiatischer Kommunismus. Wovor hatten die Amerikaner Angst damals? Um 0:30 am 1.1.2014 braucht es eine andere Beschreibung als “Quirl-ig‘. Eher ‚Hochleistungs-Industrie-Teigrührwerk-ig‘. Wohin man blickt, Helme in Bewegung. Zu jeweils zwei Helmen gehört ein Moped, die dritten und vierten Personen, meist Kinder, brauchen keinen Helm. Gut, dass wir schon etwas getrunken haben, das gibt die notwenige Ruhe, bei dem Verkehr quer über die Straße zu laufen. Hilflos machen wir ein paar Fotos und Videos um das ganze wiederzugeben; das ist zum Scheitern verurteilt. Ich merke, dass mich das weniger stört als früher: ich werde es beschreiben!

Mir kommt dazu ein Bild in den Kopf: Eine Sondersendung auf arte erklärt den Blutkreislauf. Die Blutbahnen/Straßen Saigons werden bevölkert von weißen Blutkörperchen (Autos), roten (Mopeds), und den erst vor kurzem entdeckten blauen Blutkörperchen (Fußgänger) [Hier habt Ihr’s zuerst gelesen, die finden sich noch nicht einmal auf Wikipedia]. So pulsiert der Verkehr, der Herzschlag der Stadt im Takt der Ampeln. Am späten 31.1. drängen immer mehr Blutkörperchen in die Bahnen, bilden gefährliche Ablagerungen an öffentlichen Plätzen, der freie Querschnitt der Straßen wird immer kleiner, weiße Blutkörperchen versuche hupend ihren Weg zu bahnen. Zu Neujahr dann der vollständige Infarkt, denn auch die meisten fahrenden Blutkörperchen wollen das Feuerwerk sehen. Um 0:20 wirkt das Ende des Feuerwerks wie ein starkes blutverdünnendes Mittel, die Ablagerungen lösen sich auf, und millionen, vielleicht sogar hunderttausende, Teilchen machen sich auf den Weg. Auf dem ganzen Querschnitt der Straße bewegt es sich, langsam, aber doch immer wieder. Von den Parkplätzen auf den Bürgersteigen drängen weitere Teilnehmer in den Verkehr. Blaue Blutkörperchen wuseln sich durch die Menge der hupenden roter hindurch. Scheinbar ist für die meisten Vietnamesen das Highlight des Abends mit Ende des Feuerwerks erreicht, jetzt geht’s heim(?). Vier blaue Blutkörperchen wetten, wann der Spuk hier komplett vorbei ist, alle täuschen sich – es braucht über 90 Minuten bis der Verkehr wieder bei normal chaotisch ist.

Happy New Year 2014: same same, but different.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert