Nach Kashan kommt auf meiner Route Isfahan, wo einst der Medicus wirkte. Das Reisebüro hat für die Strecke vorgeschlagen, ein Taxi zu nehmen, da könne man einen Abstecher nach Abyaneh (ابیانه) machen, eines der ältesten Dörfer im Iran. Mein Fahrer ist genau das – als Reiseführer wurde er offensichtlich nicht angestellt. Er versteht und spricht rudimentäres Englisch, und gestikuliert formvollendet. So kommen wir auf dem Weg nach Abyaneh in Natanz vorbei – bekannt aus Film, Funk und Fernsehen als eines der Atomzentren des Landes. Tatsächlich ist neben der Straße ein größerer Komplex, der gut bewacht aussieht. An den Ecken recken wehrhaft Flugabwehrgeschütze ihre Kanonenrohre gen Himmel. Wie genau die gegen den wahrscheinlichsten Angriff mit einem tieffliegenden Cruise-Missile schützen sollen, ist mir zwar schleierhaft, aber immerhin kapiert so jeder, dass hier was Wichtiges und Geheimes ist. Ich verstehe auch ohne das Gestikulieren meines Fahrers, dass fotografieren hier wahrscheinlich nicht gut kommt.
In Abyaneh angekommen, kümmert sich der Fahrer um das Auto (bewacht es von einem nahen Teestand aus), und lässt mich auf eigene Faust durch das Dorf wandern. So ist die Tour nicht besonders fundiert, aber durch strategisches Folgen anderer Touristen bekomme ich einiges mit. Die meist aus Lehm gebauten Häuser sehen wirklich antik und historisch aus, auch wenn sie es eigentlich nicht mehr sind – ohne ständige Erneuerung wären sie nach ein paar Jahren mit genügend Regen einfach weggespült. Ein Abgleich mit dem Wikipedia-Eintrag zeigt zwar, dass ich offensichtlich nicht alle Sehenswürdigkeiten registriert habe, aber ich finde sowieso die kleineren Details interessanter. An kunstvoll verzierten Holztüren gibt es getrennt Klopfer für Sie und Ihn. Der kleinere Klopfer macht Tack-Tack-Tack und kündigt unwichtigere Besucher an, um die sich auch die Frau kümmern kann. Der massivere Klopfer mit seinem Bum-Bum-Bum zeigt an, dass es wirklich wichtiger Besuch ist, und der Chef vonnöten ist.
Es folgt der zweite Teil der Fahrt nach Isfahan, die sich als durchaus moderne Metropole entpuppt. Den Nachmittag habe ich ‚zur freien Verfügung‘. Witzig, die Formulierung – eigentlich war ja die ganze Reise frei verfügt. Jedenfalls beschließe ich, dass ich mir mal wieder die Haare schneiden lassen muss. In einer guten Woche bin ich in Deutschland auf einer Hochzeit eingeladen, da muss ich präsentabel sein, und irgendwie hat der Frisörbesuch im Urlaub bei mir Tradition. Außerdem – zur Gepäckminimierung habe ich meinen Bartpflegegerät und dessen Ladegerät nicht mit, zwischendrin rasierte ich mal wieder alles ab, aber vor der Reise in dieses streng muslimische Land habe ich den Bart fünf Wochen wachsen lassen. Ich dachte mit diesem nunmehr recht rauschigen Bart besser in die Landschaft zu passen. Tatsächlich sind aber die meisten Iraner glatt rasiert, oder tragen maximal einen Dreitagebart – wahrscheinlich halten die mich für einen Radikalen. Auch darum soll sich der Haar-Handwerker kümmern.
Beim Streifzug durch die Stadt sind mir an vielen Straßen an den Laternen oder ähnlich exponiert Fotos von Männern aufgefallen. Sie sehen allesamt wie Fahndungsfotos aus, aber ich schätze, Verbrecher werden seltener von der Nationalfahne eingerahmt dargestellt. Meine Einschätzung, dass hier Märtyrer geehrt werden, passt zu ein paar anderen Eindrücken. So komme ich an einem mit hohen Mauern umgebenen Komplex vorbei, wo ein aufwendiger Poster meine Aufmerksamkeit erregt. Ein buntes Schaubild gibt Auskunft über den heldenhaften Kampf der Iraner gegen die feigen Hunde der von den Imperialisten unterstützen Irakern (1980-1988) – damals waren Saddam Hussein und die Amerikaner noch große Buddys. Eine Karte stellt die wichtigsten Kampfgebiete dar, durchgestrichene irakische Panzer signalisieren militärische Erfolge, und auch andere Insignien passen zu den Fahndungsfotos an den Laternen. Solch aufdringliche Propaganda sind wir gar nicht mehr gewohnt, und fasziniert knipse ich den Poster. Kurz nach dem Foto macht es Klick, und ein Tor in der hohen Mauer geht auf. Ein junger Mann in Uniform weist mich freundlich darauf hin, dass fotografieren hier verboten sei. Ich versuche, ihn in Zeichensprache davon zu überzeugen, dass das doch ‚öffentliche Propaganda‘ ist, und es eigentlich im Sinne des Propagandisten sein müsste, wenn ich sie auf diese Weise weiterverbreite. Der junge Mann bleibt ebenso freundlich wie bestimmt – ich möge bitte das Foto löschen. Als ich auf den Knopf mit dem kleinen Papierkorb auf der Kamera drücke, ist er zufrieden, schüttelt mir die Hand und verschwindet wieder hinter dem Tor.
Am nächsten Morgen holt mich Mahmoud am Hotel ab, um mir Isfahan offiziell zu zeigen. Wie in den anderen Städten habe ich meine mangelnde Vorbereitung dadurch kompensiert, mir für einen Tag einen Stadtführer mit zwei Ohren zu nehmen, das iranische Reisebüro berechnet pro Tag 50€. Mahmoud ist pensionierter Lehrer, spricht exzellent deutsch, und weiß alles über Isfahan. Gemeinsam machen wir einen Plan, was ich mit ihm ansehen werde, und was ich am nächsten Tag auf eigene Faust angucken kann. So führt er mich auf den beeindruckenden Meidān-e Emām. Das bedeutet ‚Platz des Imam‘, doch der seit der Revolution vergebene Name scheint so beliebt zu sein wie der ‚Karlsplatz‘ in München. Da es an dem Platz aber kein bekanntes Wirtshaus gibt (‚Stachus‘, wie Münchner den Karlsplatz nennen, kommt von dem Wirtshaus des EuSTACHiUS Föderl, welches an eben diesem Platz war), verwenden die Einwohner einfach den alten Namen: ميدان نقش جهان. Der Platz zählt zu den größten der Welt, und ist rundherum von einer einheitlichen Arkatur eingefasst, die auch Moscheen, Paläste und einen Basar einbindet. Die Bauwerke sind atemberaubend, sowohl vom Gesamteindruck als auch von allen Details. Ich befürchte schon beim Fotografieren, dass sich das schwer vermitteln lässt. Aber auch hier sind es die kleineren Details und Ankedoten, die mir Spaß machen. Der Platz ist annähernd in Nord-Süd Richtung orientiert, Moscheen werden aber auf Mekka ausgerichtet, und das ist in Isfahan nach Südwesten. So müssen die Eingangspforten versuchen, klare Symmetrien gegenüber dem Platz darzustellen, und dann einen unauffälligen 45° Knick auf die ebenfalls streng symmetrische Moschee zu leisten. Am Eingang zur Jame Abbasi Moschee steht ein freundlicher Herr, und bittet ein iranisches Mädchen, vor dem Betreten ihre Haare etwas mehr zu bedecken (Isfahan folgt wieder der Teheraner Mode mit lockeren Kopftüchern). Mahmoud weist mich auf die Verzierungen der Säulen links und rechts eines Tors hin – sie sehen auf den ersten Blick identisch aus, aber bei genauerem Hingucken findet man kleine Unterschiede. Das liegt daran, dass nur Allah perfektes Schaffen kann, und der Mensch soll sich dieses nicht anmaßen. In einer Ecke sind Handwerker gerade damit beschäftigt, einige der Mosaikfliesen auszutauschen. Dabei werden unterschiedlich farbige Fliesen in kleine Stücke geklopft, bis sie genau in die Aussparungen einer ‚Rahmenfliese‘ passen. Offensichtlich ein anstrengendes Unterfangen, denn gerade machen die meisten Pause – und sie haben noch einiges vor sich, Wikipedia schreibt etwas von 472.500 Kacheln. In einem anderen Innenhof wächst ein Obst- oder Nussbaum, mit annähernd reifen Früchten. Eine Gruppe von Studentinnen vergisst kurz, sich mit hinreichendem Ernst dem religiösen Studium zu widmen, und wirft lachend Stecken in den Baum, um die Früchte zu ernten. Da wird mir wieder bewusst, dass zwar auf einigen hier ‚Islamische Republik‘ draufsteht, aber einfach Menschen drin sind.
Mit Mahmoud besichtige ich noch einen etwas mondäneren Palast, wir streifen einen Basar und eine Synagoge, und am Ende bitte ich ihn noch, mich zum Teppichhändler seines Vertrauens zu führen – ich habe Appetit bekommen, und vielleicht finde ich ja noch einen witzigen Kelim. Dann bekomme ich eine to-do Liste an selbst zu besichtigen Sehenswürdigkeiten, und darf wieder in mein Hotel; modern-langweilig, aber immerhin mit Blick auf den Fluss, den ich nun besuche. Isfahan liegt an dem Zayandeh Rud, das bedeutet lebensspendender Fluss, ein breiter stattlicher Fluss, der von mehreren historischen Brücken überspannt wird. So weit die Theorie. Praktisch braucht es gerade viel Phantasie, um sich den Fluss vorzustellen, das Flussbett ist knochentrocken; man kann die historischen Brücken auch aus sonst ungewöhnlichen Perspektiven angucken. Ein paar Tretboote verstauben dort, wo sie eigentlich dümpeln sollten. Dennoch sind die Brücken und der Park am Ufer beliebt – Picknicks und Ballspiele, kichernde Mädchen und ausgelassene Stimmung herrschen vor. Abends treffe ich im Hotel wieder die Holländer, mit denen ich schon am Abend zuvor ein Restaurant gesucht habe, und wir machen uns auf in die nächste Touristenfalle (Kulinarisch hat mich der Iran bislang nicht besonders begeistert, viel Hackfleisch auf Spießen).
Für den nächsten Tag hat mich der Licht-Großhändler auf eine seiner Kundenveranstaltungen eingeladen. In einem nach traditionellen Vorbild gebautem Haus (aber durchaus modern, mit Schwimmbad und Sauna im Keller) gibt es eine Lunchparty für Kunden aus der Gegend, und ich – der ja auch aus der Lichtindustrie kommt – darf als exotische Garnierung mit. Ich schätze 100 Teilnehmer, davon trauen sich drei Englisch zu sprechen. Einer davon ist Babak, ungefähr 24 Jahre alt, studiert Englisch. Ganz schüchtern fragt er, ob er sich mit mir unterhalten dürfte. Er darf. Die Veranstaltung ist witzig – lauter lokale Wiederverkäufer sitzen an verschiedenen Tisch und reden, worüber, dass erschließt sich mir natürlich nicht. Zwischendrin ein reichhaltiges Buffet und eine kurze Ansprache des Großhändlers, der mich offensichtlich auch vorstellt – ich bekomme Szenenapplaus, für’s dasitzen. Eigentlich wie einige andere Veranstaltungen, auf denen ich in meinem Leben war, aber irgendwie auch nicht. Mich irritiert, dass alle Tee oder einen eher wässrigen Orangensaft trinken. Mich irritiert, dass mich das irritiert – wie sehr Alkohol in meinem Kulturkreis zu einem geselligen Beisammensein gehört wird mir da wieder bewusst. Als sich die Feier so gegen 14:00 zum Ende neigt, verabrede ich mich für den Abend mit Babak – er freut sich Englisch üben zu können, ich freue mich, eher ungefilterte Informationen über das Land erfragen zu könnnen.
Die Zeit bis dahin verbringe ich mit einem Besuch der Vank Kathedrale, ein To-Do von Mahmoud. Eine christlich-orthodoxe Kirche der armenischen Gemeinde, komplett mit Genozid-Museum über die bösen Türken. Ich bekomme das Gefühl, dass es den Iranern ein großes Anliegen ist, ihre große Weltoffenheit gegenüber anderen Religionen zu zeigen, jedenfalls meinen Iranern – Synagogen, Kirchen, Tempel der Zoroastrier – alles da. Am Abend treffe ich dann Babak, der im Elektroladen seiner Familie arbeitet, und wir schlendern durch die Parks am Flussbett. Unserer gegenseitigen Interessenslage entsprechend bewegt er sich auf seiner Englisch-Lernkurve weiter indem er über seine Träume, seine Gedanken über Frauen und zB Treue vor der Ehe erzählt. Auch er kennt keine guten, authentischen Restaurants; wieder Fast-Food Chicken.
Am nächsten Morgen geht es weiter nach Yazd, 250km östlich. Diesmal habe die Busfahrkarte über die Hotelrezeption bestellt, ich habe also einen Direktbus in die Stadt. Gut, nicht in die Stadt, sondern an den modernen Busbahnhof in einem Vorort, ca. 5 km vom Zentrum entfernt. Also auch wieder ein Taxi. Yazd ist berühmt als Zentrum der zoroastrischen Religion, diverse Tempel und die Türme des Schweigens für Himmelsbestattungen gilt es zu besichtigen. Außerdem gibt es hier noch mehr Windtürme als im restlichen Iran, und natürlich wieder ein paar Moscheen. In Yazd habe ich auch wieder ein eher historisches Hotel, malerisch in der lehmgeprägten Altstadt gelegen. Da die Moscheen zwar weiterhin beeindrucken sind, ein bisserl wiederholen sie sich schon. Kunstvolle Mosaiken, check. Minarette, check. Zwiebelförmige Kuppel, check. Gebetsteppiche, check. Ich ziehe mit Ronja und Miles aus dem Hotel weiter, wir finden ein Restaurant und nehmen ein paar Erfrischungsgetränke zu uns. Als der Besitzer erfährt, dass wir aus Deutschland sind, äußert er sich wohlwollend über Adolf den Überflüssigen. Wir schütteln den Kopf und schlürfen weiter an unseren Getränken – mittlerweile habe ich hier einiges gefunden, welches echt lecker und erfrischend ist. Da ist zum einen Doogh, die iranische Variante von Ayran, also eine eher wässrige Buttermilch. Zum anderen gibt es hier überall Granatapfelsaft, pur, nicht mit Zucker und anderen Säften verschnitten. Wenn man den trinkt, zieht es einem alles zusammen – herrlich.
Mit dem Stadtführer verbringe ich den nächsten Tag mit Besichtigungen. Die Zoroastrier glauben unter anderem an die Heiligkeit der Erde, Leichen darin zu bestatten würde sie verunreinigen. Deshalb gibt es vor den Toren der Stadt die Türme des Schweigens – hier wurden Leichen abgelegt, um von Wettereinflüssen und Vögeln bis auf die Knochen vertilgt zu werden. Opa wurde also an die Geier verfüttert. Seit 1970 werden die Türme des Schweigens nicht mehr für ihren ursprünglichen Zweck verwendet – Hygienevorschriften wurde erlassen, die auch vermeiden sollten, dass Raubvögel Leichenteile über der näher gekommenen Stadt fallen lassen. Im Stadtzentrum gibt es einen Tempel mit einer ewigen Flamme. Wie üblich frage ich mich – ähnlich wie beim olympischen Feuer – wie oft wohl der Hausmeister verstohlen sein Feuerzeug genutzt hat, wenn mal kurz das Gas weg war. Für den Abend bin ich auf eine seltsame Veranstaltung gestoßen, eine Art Kampftechnik Darbietung. Wie Ringer gewandete Männer brüllen, schwingen Keulen, stampfen auf. Es erinnert mich an einen neuseeländischen Haka, Vorbereitung auf den ultimativen Kampf, aber dieser Kampf… fehlt. Plötzlich ist es vorbei. Etwas verwirrt gehe ich mit drei jungen Polen aus meinem Hotel eine Shisha rauchen. Alle waren wir schon viel unterwegs, und mich überkommt eine Melancholie, dass meine Reise bald zu Ende ist.